Ob Sick aus Waldkirch, Streck Transport aus Lörrach/Freiburg, Hilzinger aus Willstätt oder Welter Zahnrad aus Lahr: Viele Unternehmen feiern dieses Jahr ihr 75. Jubiläum. Warum das so ist, was die Unternehmer damals auszeichnete und ob auch nach der Coronakrise mit einer Gründungswelle zu rechnen ist, darüber spricht der Marketingprofessor Dieter Tscheulin im Interview.
Dieses Jahr feiern viele Unternehmen aus der Region ihr 75. Jubiläum. Sie wurden also 1946 gegründet. Gibt es eine Häufung von Unternehmensgründungen 1946 oder generell nach dem Zweiten Weltkrieg – und wenn ja, warum?
Ja, es gibt eine Häufung von Unternehmensgründungen in den ganzen Nachkriegsjahren. Natürlich 1946, aber auch 1948 und 1949. Das lag unter anderem an den Zeitumständen. Die Menschen hatten in fünfeinhalb Jahren Krieg schlimme Erfahrungen gemacht und sich an allgemein hohe Lebensrisiken sowie die fehlende Sicherheit gewöhnt. Deutschland war zu großen Teilen zerstört, das politische System gab es nicht mehr, und man wusste nicht, wie es weitergeht.
Das heißt, die Menschen haben eine Unternehmensgründung als nicht so riskant empfunden?
Das gilt zumindest in Relation zu heute, schließlich gab es keine sicheren Alternativen in hinreichender Anzahl, weil Deutschland wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich am Boden lag. Es war das sogenannte Risk-Return-Paradoxon zu beobachten. Das bedeutet, dass Menschen in schwierigen oder Verlustsituationen eine höhere Risikofreude besitzen. Umgekehrt tendiert man in Gewinnsituationen zu einer größeren Risikoscheu.
Aber konnten die Menschen überhaupt so einfach ein Unternehmen gründen?
Sie brauchten eine Genehmigung der Besatzer und einen guten Leumund, also keine Nazivergangenheit. Bestimmte Branchen waren natürlich tabu, weil die Besatzer diese als politisch bedenklich angesehen haben. Zum Beispiel Nachrichtentechnik. Und man durfte auch keine Flugzeuge bauen. Im Prinzip stand einer Unternehmensgründung aber nichts entgegen. Die Besatzungsmächte haben genauso die Notwendigkeit gesehen, dass die Wirtschaft wieder aufgebaut wird, wie die Bürger. Es wurden ganz unterschiedliche Firmen gegründet. Und auch Handwerker, die keine Anstellung fanden, haben sich selbstständig gemacht. Es herrschte eine Aufbruchstimmung. Dass die alte Zentralverwaltungswirtschaft von Nazideutschland zusammengebrochen war, hat dazu beigetragen.
Zur Person
Dieter K. Tscheulin (62) ist seit 1993 Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind branchenspezifisches Marketing, Management im Gesundheitswesen, Marktforschung, Tourismusmarketing und Preismanagement.
Was zeichnet die Unternehmen aus, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Region gegründet wurden?
Die Unternehmer waren mutig, verfügten über eine große Risikobereitschaft, sie hatten die Fähigkeit, Ideen kreativ zu generieren und auch aus anderen Bereichen zu transferieren – und damit all das, was Unternehmer noch heute haben müssen.
1948 folgte die Währungsunion, 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet. Sind also in zwei beziehungsweise drei Jahren wieder besonders viele 75. Jubiläen zu erwarten?
Sowohl 1948 als auch 1949 gab es einen größeren Boom. Vor allem nach der Gründung der Bundesrepublik und der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 kam ein großer Schwung an neuen Unternehmen dazu. In dem Jahr wurden zum Beispiel Adidas, Tchibo, der Otto-Versand und Liebherr-Maschinen gegründet. Das Jahr markierte nochmal mehr einen neuen Start. Wenn man 1946 und 1949 vergleicht, zeigt sich: Die Gründer aus dem Jahr 1946 brauchten noch mehr Mut und Risikobereitschaft, die 1949er fanden schon mehr Verlässlichkeit vor.
Nicht nur Kriege, auch andere Krisen führen zu Aufbruchstimmungen, wenn sie überstanden sind. Rechnen Sie nach der Coronapandemie mit einer Gründungswelle?
Man muss natürlich beachten, dass Corona manche Branchen stärker und manche schwächer trifft. Manches kann nachgeholt werden. Zum Beispiel kann ein Sofa, das man während der Krise lieber nicht angeschafft hat, später gekauft werden. Ein Gastronomiebesuch kann aber nicht nachgeholt werden. In solchen Branchen ist daher mit einer größeren Insolvenzwelle zu rechnen und dann zeitversetzt auch mit einer größeren Gründungswelle. Wenn jetzt Restaurants schließen, werden, wenn wieder Verlässlichkeit eintritt, andere an ihre Stelle treten. Aber auch hier bedarf es wieder unternehmerischen Mutes und Risikobereitschaft.
Was sollten Gründer in diesen Zeiten beachten?
Gründer müssen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen kennen und sowohl das Marktpotenzial als auch die Nachfrage richtig einschätzen. Das ist eine alte Marketingweisheit. Jetzt und damit noch während der Coronapandemie ist es zum Beispiel eher riskant, einen neuen Gastronomiebetrieb aufzumachen. Es ist ja nicht klar, ob oder wie viele weitere Wellen oder Lockdowns kommen. Gründer müssen versuchen, die Zeichen der Zeit richtig vorherzusehen. Das ist das Entscheidende. Das gilt heute genauso wie in den Nachkriegsjahren.
Interview: Susanne Maerz
Bilder: Adobe Stock/privat
Zahlen
Verlässliche Zahlen darüber, wie viele Unternehmen in den Nachkriegsjahren im Regierungsbezirk Freiburg gegründet wurden, gibt es nicht. Die IHK Südlicher Oberrhein hat 73 Unternehmen registriert, die im Jahr 1946 gegründet wurden, 52 aus dem Jahr 1947, 75 aus dem Jahr 1948 und 79 mit dem Gründungsjahr 1949. Die Zahlen aus dem IHK-Bezirk Schwarzwald-Baar-Heuberg: 22 der Mitglieder wurden 1946 gegründet, 1947 waren es 14, ein Jahr danach 31 und 1949 dann 23. Die Zahlen der IHK Hochrhein-Bodensee sind aus technischen Gründen nicht aussagekräftig.
mae