Was, wenn der Chef durch eine Coronainfektion plötzlich für länger im Krankenhaus landet? Was, wenn die Chefin einen schweren Unfall hat oder sogar stirbt? Studien zeigen, dass sich nur ein Bruchteil der Unternehmen gut auf solch eine Situation vorbereitet hat. Das ist fatal, denn zum Leid der Angehörigen – und der Belegschaft – können schnell existenzielle Sorgen hinzukommen: Wie geht es mit dem Betrieb weiter? Wer entscheidet? Wer kennt sich überhaupt aus? – Besser also, sich schon im Vorfeld zu wappnen.
Als Jacqueline Brett an einem Februarmorgen 2017 ihr Büro betrat, hätte es ein Tag wie jeder andere werden können. Doch das wurde er nicht. Der plötzliche Tod ihres Ehemanns, der die Zimmerei HB Brett Holzbau in Kehl als Einzelunternehmen führte, brachte „alles auf Anfang“ in dem 1928 gegründeten Familienbetrieb. „Wir wussten nichts“, sagt die gelernte Goldschmiedin, die sich im Unternehmen ihres Mannes vornehmlich um die Buchführung kümmerte. Von ihren drei Kindern war nur der ältere Sohn Zimmerermeister, also vom Fach, aber mit 23 noch sehr jung und vom Vater kaum in die Betriebsabläufe eingeweiht. Die 26-jährige Tochter studierte auf Lehramt in Stuttgart; der jüngere Sohn, 20 Jahre, hatte gerade ein Maschinenbaustudium in Karlsruhe begonnen.
Welche Bauvorhaben waren wie weit fortgeschritten, wo lag bereits die Statik vor, welche Materialien wurden benötigt? „Wir hatten keine Kalkulationen, nur Fragen und Zukunftsängste, so wie unsere drei Mitarbeiter“, erinnert sich Jacqueline Brett. Vor allem eine Frage stand im Raum: Verkaufen oder weitermachen?
Die unterschätzte Gefahr
Zahlen zur Vakanz im Chefsessel
Wie viele kleine und mittlere Unternehmen sich der Situation tatsächlich stellen müssen, dass Chef oder Chefin plötzlich und länger ausfallen, dazu existiert keine flächendeckende Statistik. Das hat verschiedene Gründe: Bei einem Verkauf oder einer Betriebsaufgabe werden die Hintergründe oft nicht publik; zudem fällt die Differenzierung zwischen einer geplanten und einer „notfallmäßigen“ Unternehmensnachfolge zuweilen schwer. Und leiten mehrere Geschäftsführer oder Gesellschafter das Unternehmen, kann der Betrieb weitgehend ungestört weiterlaufen trotz eines Ausfalls an der Spitze.
Wenige, regional begrenzte Studien und Umfragen bringen etwas Licht ins Dunkel: So prognostizierte der Sächsische Mittelstandsbericht bis zum Jahr 2020 einen Anteil von 18,7 Prozent an den Unternehmensnachfolgen aufgrund von Krankheit, Unfall oder Tod des Firmeninhabers. 65,5 Prozent der Nachfolge seien altersbedingt. Laut einer Schätzung der IHK München und Oberbayern aus dem Jahr 2015 wird rund ein Drittel der Unternehmensnachfolgen durch unerwartete Ereignisse ausgelöst.
Unterm Strich also schon ein Szenario, das man in einer Risikoanalyse und -vorsorge bedenken sollte. Trotzdem steht es bei vielen Unternehmern eher unten auf der Dringlichkeitsliste: So ergab eine Erhebung der IHK Südlicher Oberrhein im Jahr 2017, dass sich 26,5 Prozent der befragten Unternehmer intensiv, 57,4 Prozent ansatzweise und 16,2 Prozent bislang gar nicht mit der Möglichkeit einer überraschenden Vakanz an der Firmenspitze auseinandergesetzt hatten. 38,6 Prozent hatten ein Testament, 39 Prozent eine Vorsorgevollmacht angefertigt. Ein Drittel bis die Hälfte der Unternehmen wäre also unvorbereitet gewesen.
Der Beratungs- und Coachingdienstleister The Alternative Board bestätigte in einer Umfrage von 2019, dass viele mittelständische Unternehmer das Problem ausblenden: So hatten 81 Prozent der 165 Befragten keinen Notfallplan; 65 Prozent beschäftigten sich kaum oder gar nicht mit dem Thema; zwölf Prozent sahen ihre Firma in Gefahr, sollten sie überraschend ausfallen. Nur 29 Prozent hatten mindestens eine Generalvollmacht erteilt, 36 Prozent hatten Bankvollmachten, Handlungsvollmachten oder Prokura erteilt.
cst
Schnelles Reagieren nötig
Kleine und mittlere Unternehmen, die von einer einzelnen Person geführt werden, trifft es besonders hart, wenn er oder sie durch Krankheit, Unfall oder Tod ausfällt. „Die alleinige Abhängigkeit eines Unternehmens von einer Person ist sehr risikoreich und nicht empfehlenswert“, sagt Alexander Vatovac, verantwortlich für das Geschäftsfeld Existenzgründung und Unternehmensförderung bei der IHK Hochrhein-Bodensee in Konstanz. „Als Chefin oder Chef sollte ich immer Vertrauenspersonen haben, die über die Prozesse im Unternehmen informiert sind und im Fall des Falles auch bevollmächtigt sind, Entscheidungen zu treffen. Dies kann natürlich themenbezogen auf mehrere Schultern verteilt werden oder eben auf ein, zwei sehr enge Vertrauenspersonen.“
Larissa Kratt, Expertin bei der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg in Villingen-Schwenningen für den Bereich Unternehmenssicherung, warnt vor einer langwierigen Blockade, falls der einzige Geschäftsführer zudem alleiniger Gesellschafter ist: „Denn ohne diesen ist das Unternehmen handlungsunfähig und kann nur mithilfe eines Notgeschäftsführers, welcher gerichtlich bestellt werden muss, weiterarbeiten.“
Die Probleme fangen schon bei Trivialitäten an – Wie lautet das Passwort für den PC des Chefs? – und hören dort längst nicht auf: Was war mit welchen Kunden vereinbart? Wer unterzeichnet Lieferverträge? Wer hat Kontovollmacht? Welche Termine müssen eingehalten werden? Larissa Kratt rät, schnell zu handeln. Dabei komme es auf offene Kommunikation an. Die Mitarbeiter bräuchten einen Ansprechpartner, der fähig sei, ihnen ein Gefühl von Struktur und Sicherheit zu vermitteln. Lieferanten sollten bezüglich ausstehender Rechnungen und möglicher Zahlpausen informiert werden. „Kunden müssen nicht zwingend sofort in Kenntnis gesetzt werden, da dies einige abschrecken könnte. Auf direkte Nachfrage sollte man aber eine plausible Antwort haben“, sagt Kratt. So lässt sich das Tagesgeschäft aufrechterhalten, bis eine Lösung für die Vakanz an der Spitze – und für die Zukunft des Unternehmens insgesamt – gefunden ist. Schließlich geht es bei der Betriebssicherung nicht zuletzt um die Lebensgrundlage für die Angehörigen und die Belegschaft.
Alles ganz neu aufgestellt
Bei der HB Brett Holzbau beschloss die Inhaberfamilie, „die Firma umzukrempeln“. Innerhalb von zwei Monaten nahm die Umstrukturierung Gestalt an. Das Einzelunternehmen wurde in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt, an der Jacqueline Brett mit 49 Prozent und ihre drei Kinder mit zusammen 51 Prozent beteiligt sind. „Wenn mir mal etwas zustößt, können meine Kinder sofort eine Gesellschafterversammlung einberufen und einen Geschäftsführer bestimmen“, sagt Brett.
Auch die Idee für ein neues Geschäftsfeld war schon vorhanden: 2015, auf dem Höhepunkt des Zuzugs von Bürgerkriegsflüchtlingen, hatte Heiner Brett kurz überlegt, Notunterkünfte in modularer Holzbauweise zu produzieren. Die Pläne blieben damals in der Schublade, wurden jetzt aber hervorgeholt und weiterentwickelt. Noch im Jahr 2017 stellte die Zimmerei eine neue Montagehalle mit Kran fertig. Banken, zu denen seit Jahrzehnten gute Kontakte bestanden, unterstützten die Investition; zur Finanzierung trug auch die Auszahlung der Lebensversicherung des verstorbenen Familienvaters bei. 2018 präsentierten die Bretts auf Messen ihr Konzept für Fertighäuser in ökologischer modularer Holzbauweise. Zielgruppe sollten nicht mehr Flüchtlinge, sondern junge Familien in der Region sein.
„Wir kannten kein Wochenende und keinen Urlaub, aber es hat sich gelohnt“, berichtet Brett. Ende 2018 kam der erste Großauftrag über zehn hochwertige Campingmodule herein. Das neue Geschäftsfeld boomt: Mit Reihenhäusern und Doppelhaushälften nach dem KfW-55-Standard machte die HB Brett Holzbau KG 2021 achtmal so viel Umsatz wie im Jahr 2016; die Zahl der Mitarbeiter ist auf zehn gestiegen. Mit ihrem beherzten Umgang mit der Krise inklusive der Quasi-Neuerfindung der Firma landete das Unternehmen im vergangenen Jahr unter den Top Ten beim Landespreis für junge Unternehmen, der regelmäßig vom Land Baden-Württemberg und der L-Bank vergeben wird.
Den Notfall vorab durchdenken
Es muss gar kein plötzlicher Todesfall sein, um einen Betrieb an den Rand des Abgrunds zu führen. Eine schwere Erkrankung des Inhabers reicht schon. 2020 erlitt Sternekoch Sascha Weiss, Küchenchef und Patron der „Wolfshöhle“ in der Freiburger Altstadt, mit Anfang 40 einen Herzinfarkt, der eine Reanimation erforderlich machte und neurokognitive Störungen nach sich zog, wie seine Ehefrau Manuela Weiss berichtet. Während der Reha führte sie das Restaurant weiter, unter den schwierigen Coronabedingungen. Schließlich strich sie trotzdem die Segel, auch weil Mitarbeiter absprangen und Ersatz kaum zu finden war. Nun soll die „Wolfshöhle“ im Februar mit dem neuen Pächter Martin Fauster wiedereröffnen.
Auch wenn es fast eine Binsenweisheit ist, ändert das nichts am Wahrheitsgehalt – und an der Dringlichkeit: Schicksalsschläge lassen sich nie ausschließen. Umso wichtiger sei eine gute Risikovorsorge, betont Beraterin Larissa Kratt von der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg: „Wichtige Dokumente und Zugänge zu Konten sollten als Kopie an einem Ort gesammelt werden, beispielsweise Gesellschafter- und Geschäftsführerverträge, erteilte Vollmachten, Auszüge des Handelsregisters, Zugangsdaten zu diversen Konten sowie finanzielle Unterlagen wie Jahresabschlüsse, Darlehensübersichten, Steuerbescheide. Zudem sollte eine Info über den Verbleib der Originaldokumente hinterlegt sein. Das IHK-Notfall-Handbuch für Unternehmen dient hierfür als optimaler Leitfaden.“
Brigitta Schrempp, Geschäftsführende Gesellschafterin des Softwarehauses Schrempp EDV in Lahr und Vizepräsidentin der IHK Südlicher Oberrhein, hat an dem Notfall-Handbuch mitgearbeitet. Sie brachte persönliche Erfahrungen ein: 2012 verunglückte ihr Ehemann tödlich, mit dem sie das Unternehmen 1980 gegründet hatte: „Ich war in sämtliche Betriebsabläufe eingebunden, wir hatten alle Vollmachten, etwa für die Banken, geregelt, und es gab ein Testament.“
Trotzdem dauerte es, bis das Unternehmen wieder in der Spur war. „Der Umgang mit Behörden ist aufwendig. Man muss einen Erbschein beim Amtsgericht beantragen, hinzu kommen Anforderungen von Finanzamt und Notariat – alles in einer äußerst schwierigen persönlichen Situation, schließlich hat man seinen Lebenspartner verloren.“ Und es galt weitere Fragen zu beantworten: Einen Tag nach dem Tod ihres Mannes ging Schrempp in die Firma, um mit den damals 45 Mitarbeitern zu sprechen; in den folgenden drei Wochen informierte sie Kunden und Lieferanten. „Um die Kunden zu beruhigen, muss man praktisch ein fertiges Konzept für die Zukunft haben“, sagt Schrempp.
Ihr Unternehmen, das auf 85 Mitarbeiter angewachsen ist, hat die Krise gemeistert und zugleich sein Geschäftsfeld fokussiert. Die Sparte Handelssoftware läuft aus, der Schwerpunkt liegt jetzt auf Fertigungssoftware für Industriekunden. Inhaberin Schrempp hat für sich selber die Nachfolge geregelt, indem sie eine bewährte Führungskraft in die Geschäftsführung berufen hat. „Eine Nachfolgeregelung ist ungemein wichtig“, sagt sie. „Dies gilt auch für Ehepaare, die ja beide zugleich, etwa bei einem Verkehrsunfall, sterben können.“
Doppelten Boden einbauen
Sind Kinder vorhanden und haben diese Interesse am Unternehmen, falle die erste Wahl bei der Unternehmensnachfolge meist auf ein Familienmitglied, beobachtet Christina Gehri von der IHK Südlicher Oberrhein in Freiburg. Steuerberater und Rechtsanwalt sollten bei solchen Überlegungen unbedingt einbezogen werden, allein schon, um Erbauseinandersetzungen vorzubeugen und den Erbfall rechtssicher zu klären. Idealerweise werde ein Nachfolger über mehrere Jahre „aufgebaut“, sodass Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten das Gefühl eines gleitenden Übergangs hätten. „Das setzt voraus, dass der Unternehmer frühzeitig bereit ist, Verantwortung abzugeben“, sagt Gehri. „Wenn alles auf eine einzige Person fixiert ist, steigt das Risiko, dass der Betrieb beim Ausfall des Unternehmers in eine ernste Krise gerät.“
Je nach Branche und Organisation des Unternehmens kann es sogar sinnvoll sein, den Worst Case einer plötzlichen Vakanz nicht nur für die direkte Führungsspitze durchzuspielen und entsprechend vorzubauen, sondern auch für Fach- und Führungskräfte in neuralgischen Positionen, wie es derzeit so manches Unternehmen angesichts der um sich greifenden Omikron-Variante tut.
Bei der HB Brett Holzbau KG teilen sich Geschäftsführerin Jacqueline Brett, ihr älterer Sohn, ihre Tochter und deren Ehemann die Aufgaben am Firmensitz in Kehl. Nur der jüngere Sohn ist nicht vor Ort; er hat mittlerweile eine eigene Firma in Karlsruhe. Die Tochter ist Handlungsbevollmächtigte, aber die anderen Familienmitglieder können ebenfalls Verträge, etwa mit Lieferanten, schließen. „Jedes Bauvorhaben ist digital hinterlegt, alle wissen über alles Bescheid“, sagt Brett. „Mir ist wichtig, dass meine Kinder und ich den Betrieb auf Augenhöhe führen. Es gibt keine Hierarchie unter uns. Das ist der bessere Weg für unser Unternehmen, wie ich aus dem plötzlichen Tod meines Mannes gelernt habe.“
Text: Christoph Stehr
Bilder: Adobe Stock
Professionelle Gedankenstütze
Notfall-Handbuch für Unternehmen
Das bundesweit von den Industrie- und Handelskammern angebotene „Notfall-Handbuch für Unternehmen“, an dem die IHK Südlicher Oberrhein mitgewirkt hat, ist ein Leitfaden zur Unternehmenssicherung im Fall einer personellen Vakanz. Das Ausfüllen der gut 50 Seiten mit Namen, Adressen und Prozeduren kann online im PDF geschehen und digital gespeichert werden. Außerdem empfiehlt es sich, das Ergebnis auszudrucken und mit allen dazugehörigen Unterlagen in einem Notfall-Ordner abzuheften. Eine jährliche Überprüfung und Aktualisierung ist sinnvoll. Da das Notfall-Handbuch sensible Daten enthält, sollte es an einem sicheren Ort, zum Beispiel in einem Bankschließfach oder bei einem Rechtsanwalt oder Notar verwahrt werden. Vertrauenspersonen in der Familie oder in der Belegschaft müssen Bescheid wissen, wo die Informationen lagern.
Das Notfall-Handbuch gliedert sich in einen betrieblichen und einen privaten Teil und gibt Aufschluss über:
- Zu informierende Personen bei längerem Ausfall, Unfall oder Tod
- Maßnahmen zur Weiterführung des Unternehmens (Informierung eines bestehenden Beirats, Einrichtung eines Krisenstabs, Informierung weiterer Personen wie Rechtsanwalt, Notar, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer)
- Verantwortlichkeiten für betriebliche Abläufe (Zahlungsverhältnisse, Produktions- und Leistungsprozesse, Beschaffung und Lagerhaltung, Personal)
- Unternehmensnachfolge (Erbregelung, potenzielle Unternehmenskäufer)
- Geschäftskonten, Bankschließfächer, Safe sowie die Bevollmächtigten
- Bürgschaften
- Wertpapiere
- Zahlungsverpflichtungen (Miete, Immobilienfinanzierungen, weitere Kredite)
Unternehmensbeteiligungen - Versicherungen
- Mitgliedschaften
- Verträge und Urkunden (Gesellschaftsverträge, Prokura, Vertretungsvollmachten)
- Handelsregisterauszüge
- Grundbuchauszüge
- Weitere Verträge und Unterlagen
- (zum Beispiel Leasing- und Pachtverträge, Arbeitsverträge, Konzessionen, Zertifizierungen)
- Gewerbliche Schutzrechte (etwa Designschutz, Marken, Patente)
- Sonstige Unterlagen (Kfz-Briefe der Geschäftsfahrzeuge, anhängige Rechtsstreitigkeiten, Gewähr-/ Garantieleistungen gegenüber Dritten)
- Wichtige Kunden und Lieferanten
- Aufträge und Kalkulationen
- Passwörter und Schlüsselverzeichnis
IHK Hochrhein-Bodensee:
Alexander Vatovac
Telefon: 07531 2860-135
Mail: alexander.vatovac@konstanz.ihk.de
IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg:
Larissa Kratt
Telefon: 07721 922-138
Mail: kratt@vs.ihk.de
IHK Südlicher Oberrhein:
Christina Gehri
Telefon: 0761 3858-142
Mail: christina.gehri@freiburg.ihk.de