Agilität gilt als neues Zauberwort. Hierarchien scheinen dagegen immer mehr verpönt. Dabei ist gute Führung gar keine Frage von Rangordnung. Zu welchen Modellen Experten raten und wie Firmenchefs aus der Region agieren.
Hierarchie setzt sich zusammen aus den altgriechischen Wörtern „hieros“ (heilig) und „arche“ (Herrschaft), bedeutet wörtlich also heilige Herrschaft. Agil kommt vom lateinischen „agilis“ und heißt flink, beweglich. Die Begriffe sind per se keine Gegensätze. Auch agile Organisationen haben Hierarchien, meist flache, und umgekehrt können stark hierarchische Strukturen agil agieren. Dennoch hat die Hierarchie einen schlechten Ruf. Man findet kaum ein Unternehmen, das in seinem Leitbild stolz darauf verweist. Warum? „Weil Hierarchie in modernen Gesellschaften sehr unpopulär ist“, sagt Stefan Kühl. Der Bielefelder Soziologieprofessor und Unternehmensberater sprach kürzlich beim Freiburger Personalkongress auf Einladung von Erzdiözese, Caritas, Handwerkskammer und IHK Südlicher Oberrhein. Unter dem Titel „Vom Aussterben bedroht?“ ging es um das vermeintliche Ende der Hierarchie.
Macht gibt es auch ohne Hierarchie
Organisationen kaschieren oft ihre hierarchischen Strukturen, beobachtet Kühl. Und viele verwechseln Hierarchie mit Führung. Er definiert die Begriffe so: Führung kann flexibel und situativ sein, ist nicht an bestimmte Personen gebunden und wird immer wieder neu gesucht. Dagegen sind die Merkmale von Hierarchie eine zeitlich unbegrenzte Festlegung (der Chef ist morgen der gleiche wie heute), eine soziale Eindeutigkeit (jede Person ist fest verortet, die Zuständigkeiten sind eindeutig) und eine sachliche Einordnung nach Themen. Die hierarchischen Strukturen zu akzeptieren, ist laut Kühl Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Organisation. Sie hat ja auch Vorteile: Es müssen nicht immer alle alles gut finden, deshalb können auch unpopuläre Entscheidungen getroffen werden. „In Krisensituationen, in denen die Organisation sehr schnell entscheiden und Ressourcen mobilisieren muss, sind hierarchische Organisationen im Vorteil“, sagt Kühl. Umgekehrt könnten aber, wenn es eher um dezentrale Reaktionen auf eine Krise geht, Organisationen mit abgeschwächten Hierarchien besser reagieren.
Aber bedeutet Hierarchie überhaupt Macht? „Nicht automatisch“, sagt Kühl. Zwar speise die Hierarchie ihre Macht aus der Möglichkeit, Leute entlassen, die Karrieren von Mitarbeitern beeinflussen und Ressourcen verteilen zu können. Doch oft seien Menschen unten mächtiger. Sachverstand, Kompetenz, Wissen oder wichtige Kundenkontakte zählt Kühl als typische Machtquellen ohne Hierarchie auf. Oder die Kontrolle informaler Kommunikationswege, die viele Assistent(inn)en perfekt beherrschen. Laut Kühl gibt es nicht nur die klassische Führung von oben nach unten, sondern auch Führung zur Seite – also zu Kollegen aus anderen Abteilungen – und von unten nach oben. Die „Unterwachung der Vorgesetzten“ nennt der Soziologe es, wenn Untergebene ihre Chefs dazu bringen, etwas zu tun. Solche Prozesse finden die ganze Zeit statt.
Wenn Organisationen bewusst auf hierarchische Strukturen verzichten, erreichen sie damit laut Kühl dreierlei: Zum einen sucht sich, wenn die Organisation die Rolle niemandem zuweist, das Umfeld einen Sprecher oder Repräsentanten. Typisches Beispiel dafür: der Grünen-Politiker Joschka Fischer, der nie Vorsitzender, aber prominentester Repräsentant seiner Partei war. Zum anderen werden oft Entscheidungen zentralisiert. Wenn man eine Führungsebene herausnimmt, vergrößert sich der Einzugsbereich von Führung mit dem Effekt, dass Mitarbeiter sich beschweren, nicht gesehen zu werden und dass Verantwortlichkeit schwerer zu benennen ist. Schließlich befeuern flache Hierarchien Machtkämpfe, häufig auf der Hinterbühne.
Interview mit Birgit Schrempp, Schrempp EDV GmbH
Frau Schrempp, Beschreiben Sie Ihren Führungsstil.
Offen und empathisch. Ich schaue auf die Soft¬skills und höre auf mein Bauchgefühl.
„Organisationen funktionieren viel komplexer als ein Gut oder Schlecht von Hierarchien suggeriert“, sagt Kühl. Eine Hierarchie sei immer vorhanden, auch wenn es keinen Namen dafür gibt. „Faktisch haben alle Organisationen eine Hierarchie – auch diejenigen, die sich als agil präsentieren“, betont Kühl. Er habe noch keine Organisation mit mehr als 50 Mitarbeitern gesehen, die ohne Hierarchie auskommt. Sie ist notwendig, wenn Arbeitsteilung entsteht und für Kontakte nach außen. Sobald die Mitarbeiter nicht mehr um einen Esstisch passen, die Face-to-Face-Kommunikation nicht mehr funktioniert, beginnen sich Hierarchien auszubilden. „Das ist gerade für Start-ups oft ein schmerzhafter Trennungsprozess“, beobachtet Kühl. Selbstorganisation klinge als Wort zwar toll, funktioniere klassischerweise aber nur in temporären Teams. Allerdings ließen sich die Formen kombinieren, sie müssten sich nicht ausschließen.
Eine Frage der Kommunikation
Laut Peter Modler hängt das Verhältnis von Führung und Hierarchie davon ab, aus welchem Kommunikationssystem die teilnehmenden Personen kommen. Der Freiburger Unternehmensberater, Coach und Buchautor definiert – basierend auf Studienergebnissen der Soziolinguistik – zwei „völlig unterschiedliche Systeme“. Im sogenannten vertikalen System ist Hierarchie wie die Luft zum Atmen. Die Teilnehmer dieses Systems, das sind eher Männer als Frauen, können erst dann arbeiten, wenn die Rangordnung geklärt ist. Und zwar unabhängig davon, an welcher Stelle sie dann stehen. Im horizontalen System dagegen, dem Modler mehr Frauen zurechnet, gibt es eine fast egalitäre Kommunikation. Der Informationsaustausch fungiert hier als wichtiges Zeichen der Zugehörigkeit, und Hierarchie spielt überhaupt keine Rolle.
Wenn Vertreter beider Systeme aufeinandertreffen und keine Übersetzung kennen oder sich der Unterschiede nicht einmal bewusst sind, gibt es Probleme, so Modler: „Nur die Horizontalen sind sofort im Inhaltsmodus, die Vertikalen erst mal nicht.“ Das lasse sich gleichermaßen in präsenten wie virtuellen Arbeitssituationen beobachten. Beispiel Videokonferenz: Während horizontale Menschen denken, dass es dabei nur um Inhalte geht, blicken vertikale Menschen ganz anders auf virtuelle Meetings. „Die denken: Das ist mein Film, ich bin Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller“, sagt Modler. Deshalb machen sie sich ganz andere Gedanken, überlegen wie sie zu sehen sind, arrangieren den Hintergrund, betreiben Trockenübungen. Eine Herausforderung für Führungskräfte sieht der Unternehmensberater darin, beide Kommunikationssysteme zu kennen, „zweisprachig“ zu sein, wie er es nennt, und „zwischen den Systemen switchen zu können“. Schließlich sei nicht die Monokultur eines Systems produktiv, sondern der Mix aus beiden.
Interview mit Ute Grießhaber, Weisser+Grießhaber GmbH
Frau Grießhaber, Mit welchen Mitarbeitern duzen Sie sich?
Mit allen in meiner nächsten Umgebung und mit denen, die ich schon lange kenne. Oder bei denen mir der Nachname zu kompliziert ist.
Einer anderen Kompetenz kommt laut Modler gerade in Krisensituationen eine besondere Bedeutung zu. Die Flutwelle von Mails und anderen (elektronischen) Informationen ist ein permanenter Angriff auf die Strategiefähigkeit von Führungskräften. „Wenn man sich dem unkontrolliert aussetzt, verliert man den Überblick“, sagt Modler. Er vergleicht die Führungskraft mit einem Steuermann, der früher ein passabler Matrose und Smutje war. Weil er alles so gut kann, macht er alles. Aber während er das Segel einholt oder die Kartoffeln pellt, steht niemand am Steuer. „Es ist ein Irrweg zu glauben, dass man alles selbst machen muss. Das ist virtuell ganz genau so“, betont Modler. Auf Distanz sei es zudem schwieriger, den Kontakt zu halten und vor allem, Räume für zufällige Begegnungen zu schaffen, in denen Kreativität entsteht. Wenn das nicht gelingt, wird es zum Innovationsproblem, glaubt der Unternehmensberater, der sich jetzt in der Krise vor Aufträgen kaum retten kann. Vor allem Einzelcoachings sind gefragt. Modler rät Führungskräften, sich zu erklären, auch wenn es um unangenehme Wahrheiten geht. „Es ist nicht die Zeit für einsame Entscheidungen“, sagt er. Denn die Macht ist nicht einfach so bei der Führungsperson. Das zeige ein Rollenspiel, das auf Methoden des brasilianischen Theatermachers Augusto Boal basiert. Dabei gibt es, in wechselnden Rollen, Herren und Knechte, die Herren geben die knappen Anweisungen „Komm her“ oder „Geh weg“, und die Knechte müssen folgen. Dabei zeigt sich: Die Herren denken, sie hätten leichtes Spiel. Doch den Knechten bleibt erstaunlich viel Einfluss. Denn die Regeln geben zwar vor, dass sie gehorchen müssen, aber nicht wie. In jeder Gruppe gibt es also Knechte, die ganz langsam laufen, formal somit gehorchen, allerdings mit einer Widerspenstigkeit, die die Herren zur Verzweiflung bringt. Und was bedeutet das für Führungskräfte in Unternehmen? „Sie sollten wahrnehmen, wie abhängig sie von ihren Mitarbeitern sind“, erklärt Modler. „Es genügt nicht, formale Anordnungen zu geben. Dann gibt man den Untergebenen keinen Grund mitzumachen.“
Wie Führung auf Gesundheit wirkt
Führung und Führungskultur sind auch die zentralen Themen beim betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM), sozusagen das Fundament, weiß Petra Zieboll. „Erst wenn BGM als Managementthema und als Teil der Unternehmensphilosophie verstanden wird, kann es strategisch und gewinnbringend implementiert werden“, sagt die Inhaberin der Unternehmensberatung Business Vita Balance (Bahlingen am Kaiserstuhl) Denn es gibt nachweislich einen Zusammenhang zwischen Führungsverhalten und Mitarbeitergesundheit. Schon vor 20 Jahren hat die sogenannte VW-Studie gezeigt: Wenn eine Führungskraft, die in ihrer Abteilung einen hohen Krankenstand zu beklagen hatte, die Führung einer gesünderen Abteilung übernimmt, wird sich dort in absehbarer Zeit der gleiche Krankenstand einstellen. Zieboll beobachtet bei ihren Kunden, inhabergeführte Familienunternehmen gleichermaßen wie Konzerntöchter, große Unterschiede und zwar unabhängig von der Organisation oder Struktur des Unternehmens. Bei den einen stehen – oft kurzfristige – Zahlen im Vordergrund. Bei den anderen der Mensch. „Ich merke schnell, wenn einer zahlengetrieben ist, dann konter ich mit Zahlen“, sagt Zieboll. „Wenn ich die Zahl der Krankentage mit den dabei entstehenden Kosten multipliziere, so schnell kann ich gar nicht gucken, bis der schon bei der Million ist.“ Aufgrund von Hüftoperationen, Unfällen, Krebs oder anderen Krankheiten bedingte Fehltage ließen sich nicht reduzieren. Aber die Montags- und Freitagsfehler, die könne man schon erreichen. „Da fehlt’s an der Führung, am Gesehenwerden“, sagt Zieboll. Ein Problem: Viele Teamleiter betrachteten sich als Teil des Teams, seien nicht gewillt, von ihrer Macht abzugeben und nehmen sich keine Zeit fürs eigentliche Führen. Dabei sei eine gute Führungskraft nicht höhergestellt. Sie sollte sich nicht in die Prozesse einmischen, sondern dafür sorgen, dass sie funktionieren. „Führung ist eine Dienstleistung“, betont Zieboll. „Sie muss Mitarbeiter fördern und fordern.“ Dabei sieht sie Frauen im Vorteil: „Sie sind die empathischeren Führungskräfte“, sagt die Expertin. Sie versuchten mehr zu fördern und zu fordern, auch weil sie weniger karrierefokussiert sind. Gerade im Homeoffice brauche es diese Fürsorge: Wie geht es überhaupt meinen Mitarbeitern?
Interview mit Detlef Lohmann, Allsafe GmbH & Co. KG
Herr Lohmann, welches Ziel verfolgen Sie als Firmenchef?
Es geht nicht darum, maximal Gewinn zu machen, sondern die Überlebensfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen.
Die Mitarbeiter, die Kunden, generell die Menschen in den Fokus zu stellen und damit vor den Prozess, also die Technik an die Menschen anzupassen und nicht umgekehrt: Das sei der richtige Schritt auf dem Weg zur Agilität. Darin sieht Zieboll eine grundlegende Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. „Wer will denn zurück? Die alte Welt gibt’s nicht mehr.“ In ihrer Vorstellung der neuen Arbeitswelt, neudeutsch: New Work, geht es nicht mehr um Präsenz, braucht es keine Kontrolle, sondern Vertrauen. Da organisieren sich die Teams selbst, und die Mitarbeiter machen, was sie wirklich wollen. Dann erschöpft die Arbeit nicht mehr und macht niemanden krank.
Dabei sind Chefs laut Zieboll immer auch Vorbilder: Wenn sie der Gesundheit einen hohen Stellenwert beimessen, sportlich sind, auf sich achten, können sie das entsprechend vermitteln. Umgekehrt gibt eine Führungsperson, die keine Pausen macht und keine Limits kennt, ein schlechtes Beispiel ab. Und jemand, der sehr angespannt ist, kann gar nicht wirklich führen. „Deshalb fängt das Seminar immer an dem Punkt an: Wie gehe ich mit mir selbst um“, sagt Zieboll. Überhaupt setzt die Beraterin stets ganz oben an. „Ich nehme keinen Auftrag an, wenn die oberste Etage nicht sagt: Ich will.“ Denn dann sei das betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) zum Scheitern verurteilt.
Gerade im Zusammenhang einer alternden Belegschaft nimmt das Thema Gesundheit zwangsläufig eine prominente Rolle für Führungskräfte ein. Und dabei ist es nicht mit Rückenschulungen, Entspannungskursen oder Apfeltagen getan, betont Zieboll. Schließlich gehe es bei älteren Mitarbeitern ganz generell um die Motivation, gut zu arbeiten. Denn die wollen nichts mehr erreichen, haben keine Angst mehr. Gleichzeitig kosten sie viel und sind mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung äußerst wertvoll. Die Führungskräfte müssen aber gleichzeitig die mittelalten Kollegen im Blick haben, die auf dem Arbeitsmarkt umworben werden, und sich um die Jungen kümmern, die teilweise auftreten, als seien sie die Könige. „Das kann eine große Herausforderung sein, das alles gleichzeitig zu händeln“, sagt Zieboll. Und gerade jetzt in der Pandemie gilt es, die psychischen Auswirkungen der Einschränkungen auf jeden Einzelnen im Blick zu haben. Das geht laut Zieboll nur mit einer gesamtheitlichen Unternehmenskultur.
Text: Kathrin Ermert
Bild: Istockphoto – micha360
Online-Impulsserie „Führen im Wandel. Die neue Normalität“ ab 13. April: www.suedlicher-oberrhein.ihk.de ( 4813612)
Tagesseminar „Zusammenarbeit und Führung auf Distanz“, 14. April in Konstanz & 23. April in Schopfheim www.konstanz.ihk.de ( 143138363)