Was, wenn nicht allein Gewinn und Verlust etwas über den Erfolg eines Unternehmens aussagen? Was, wenn Faktoren wie regionale Ausrichtung, Nachhaltigkeit und Mitbestimmung in die Bilanz einfließen? Was macht das mit einem Unternehmen, was mit den Menschen dahinter? Es eröffnet neue Perspektiven.
Paketboten müssen seit einigen Monaten immer seltener die Rheingasse 19 in Konstanz ansteuern. Denn Bestellungen bei überregionalen Onlinehändlern werden hier kaum noch getätigt. „Über jedes Paket, das wir nicht geliefert bekommen, freue ich mich“, sagt Martin Bantle. Der Versicherungskaufmann und Leiter einer Zurich-Agentur in der Konstanzer Altstadt lässt sein Team lieber vor Ort einkaufen. „Nur so stärken wir als Unternehmen den heimischen Markt und den Standort, an dem unsere Kunden wirtschaften“, lautet seine Erklärung. Der Einkauf ist eine von vielen Betriebsroutinen, die in den vergangenen Monaten einer Veränderung unterworfen waren. Der Unternehmer hat seine Agentur nach den Kriterien des Gemeinwohls bilanzieren lassen und die Prozesse innerhalb des Betriebs danach ausgerichtet. Ein Auslöser für diesen Schritt war ein Buch: „Reinventing Organizations“ von Eric Laloux: „Der Autor beleuchtet darin, wie fruchtbar es für ein Unternehmen ist, wenn man den Menschen in den Mittelpunkt stellt, und erläutert, warum ein Unternehmen besser dem Menschen dienen sollte – und nicht umgekehrt“, erklärt Bantle.
Einen zusätzlichen Abschluss anfertigen, der noch dazu komplett freiwillig und zudem umfangreich ist? „Ja, das geschieht. Und das Interesse daran wächst“, sagt Stefanie Aufleger. Seit 2012 befasst sich die Chefin der Konstanzer Unternehmensberatung Steauf mit der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) und begleitet als GWÖ-Beraterin Unternehmen bei der Erstellung ihrer Gemeinwohl-Bilanz. Eines davon war die Agentur von Martin Bantle.
Den Sinn der Arbeit dokumentieren
„Eine Gemeinwohl-Bilanz hat einen immensen Einfluss auf das Unternehmen und die Mitarbeitenden“, sagt Nico Tucher, ein Mitstreiter aus dem dreiköpfigen Gründungsteam von Wetell. Der Freiburger Mobilfunkanbieter ist seit 2020 auf dem Markt und hat sich für eine Gemeinwohl-Bilanz entschieden. Der Ursprungsgedanke war, Transparenz zu schaffen – sowohl nach außen als auch nach innen. Durch die Offenlegung von Prozessen, Lieferanten und Verfahren will Wetell Vertrauen gegenüber potenziellen Kunden schaffen. „Wir stehen für Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Mobilfunk, also wollen wir dokumentieren, wie wir das machen – also wo zum Beispiel unser Strom herkommt oder wie wir CO2 einsparen“, erläutert Tucher. Die Orientierung des Unternehmens am Gemeinwohl hat zusätzliche Wirkungen: „Wenn Mitarbeitende in ihren Tätigkeiten einen Sinn erkennen, wirkt sich das auf alle Bereiche einer Firma aus.“ Er lächelt und hält kurz inne: „Aus der klassischen Unternehmersicht könnte man auch formulieren: Stell Dir vor, alle Deine Mitarbeitenden ziehen voll mit. Was könntest Du alles mit Deinem Unternehmen erreichen?“
Hilfreich auch als Verkaufsargument
„Unternehmen werden heute nicht mehr nur nach ihren Finanzdaten bewertet. Investoren, Unternehmen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher verlangen zu Recht mehr und bessere Informationen. Dazu zählen Arbeitnehmer-, Sozial- und Umweltbelange genauso wie die Achtung der Menschenrechte oder Konzepte zur Korruptionsbekämpfung“, formulierte es 2016 der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD). Anlass war die Umsetzung des „Gesetzes zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten“, des sogenannten CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes. CSR steht für Corporate Social Responsibility – zu Deutsch „gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen“. Damit, so merkt Stefanie Aufleger an, „greift der Gesetzgeber erstmals tief in die Wertekultur von Unternehmen ein und setzt die Auseinandersetzung mit Werten und Ethik auf die Wirtschaftsagenda.“
Auch deshalb geht Alexander Graf, Geschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee, davon aus, dass die Gemeinwohl-Bilanz „aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Themen Nachhaltigkeit und CSR zukünftig eine größere Rolle spielen könnte“. Für Jil Munga vom Geschäftsbereich Innovation und Umwelt der IHK Südlicher Oberrhein ist die Gemeinwohl-Bilanz ein Werkzeug, das viele Ressourcen benötigt, „weshalb ich es vor allem Unternehmen empfehlen würde, die im B2C-Bereich tätig sind, wo Zusatzqualifikationen die Kaufentscheidung von Kunden beeinflussen können.“
In der Gemeinwohl-Bilanz werden fünf für ein Unternehmen relevante Gruppen – das sind Lieferanten, Eigentümer und Finanzpartner, Mitarbeiter, Kunden und Mitunternehmen sowie das gesellschaftliche Umfeld – in den Kriterien Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitbestimmung bewertet. Die Punkteskala, mit der bewertet wird, reicht von minus 3.600 bis maximal plus 1.000. Für Praktiken oder Faktoren, die sich negativ auf das Gemeinwohl auswirken, werden Punkte abgezogen. Ein Unternehmen, das alle gesetzlichen Vorschriften einhält, aber keinen positiven Beitrag zum Gemeinwohl leistet, macht die Nulllinie aus. Mit jedem weiteren Engagement arbeitet sich das Unternehmen also ins Positive.
So geht man eine Gemeinwohl-Bilanz an
Gitta Walchner ist seit mehr als zehn Jahren als Auditorin für die Gemeinwohl-Ökonomie aktiv. Die Expertin aus Freiburg weiß, welche Herausforderungen mit der Erstellung einer Gemeinwohl-Bilanz verbunden sind.
Startpunkt für Veränderungen
„Es war nicht immer einfach“, gibt Martin Bantle zu. Doch der Aufwand zur Erstellung der Gemeinwohl-Bilanz hat sich aus seiner Sicht gelohnt. Rund 150 Arbeitsstunden sind in den Prozess geflossen. Darunter waren Workshops, in denen er sich als Unternehmer seinem Team gestellt hat. „Ich dachte, ich bin ein toller Chef“, berichtet er lächelnd, „aber meine Mitarbeiter sahen das nicht in jeder Hinsicht so.“ Kein Problem aber, denn genau diese Art des Umgangs miteinander helfe ihm weiter. „Ich will ja ein guter Chef sein, und durch diesen Prozess kenne ich nicht nur den Stand der Dinge, sondern weiß auch, welche Schritte in die richtige Richtung führen.“
Ganz ähnlich beschreibt es Hartmut Schäfer. Der Lörracher Maschinenbauingenieur und Logistiker unterstützt als GWÖ-Berater Unternehmen und Institutionen auf ihrem Weg zur Gemeinwohl-Bilanz: „Mit der Gemeinwohl-Bilanz erfährt das Unternehmen einerseits, wo es steht. Es erhält gleichzeitig einen Kompass an die Hand, um konkrete Veränderungsprozesse anzustoßen.“ Ob und wie diese genutzt und welche Verbesserungen erzielt werden sollen, „das entscheidet jedes Unternehmen idealerweise im Rahmen seiner Strategie“, sagt Schäfer, dem es wichtig ist, dass sich Firmen gezielt auf den Weg machen, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Eine Bilanz, die Kreise zieht
„Wir sind noch nicht da, wo wir sein wollen, aber jetzt wissen wir, wie das Ziel aussieht – und welche Wege wir einschlagen“, sagt Nico Tucher von Wetell. Bezogen auf die Gemeinwohl-Bilanz heißt das für ihn und die beiden anderen Köpfe hinter Wetell, Alma Spribille und Andreas Schmucker, von derzeit 470 Punkten mittelfristig auf 600 Punkte zu kommen. 120 Seiten umfasst der Bericht, der auf der Website des Mobilfunkunternehmens zu finden ist. Dort werden alle Indikatoren beleuchtet und zudem Verbesserungsmöglichkeiten aufgelistet, die bewusst angegangen werden und teilweise schon umgesetzt wurden, berichtet Tucher.
Das Schöne an der Gemeinwohl-Bilanz ist auch, dass sie über das Unternehmen hinauswirkt, weiß Stefanie Aufleger: „Wenn alle in einer Firma oder einer Institution verstehen, welche positiven Werte mit der Gemeinwohl-Bilanz verfolgt werden, dann lässt es sich nicht vermeiden, dass die eine oder andere Erkenntnis in den privaten Alltag mitgenommen wird. Und genau darüber schaffen wir eine generelle Veränderung.“ Der Gesamtprozess rund um die Gemeinwohl-Bilanz ist aus ihrer Sicht wertvoll, weil er wirkt: „Am Anfang geht es den Unternehmen oft allein um die Punkte. Es ist ihnen wichtig zu wissen, wo sie stehen. Am Ende des Prozesses rückt das in den Hintergrund.“ Vielmehr werde den handelnden Personen bewusst, welche Rolle sie einnehmen und welche Möglichkeiten sie haben, die Welt ein kleines bisschen besser zu gestalten.
Bewussteres Handeln inklusive
Die Auseinandersetzung mit der Gemeinwohl-Bilanz trägt dazu bei, genauer hinzuschauen und gegebenenfalls nachzufragen, sagt Zurich-Agentur-Chef Martin Bantle. Ein Ergebnis in seinem Hause: Onlinebestellungen nur, wenn das benötigte Material nicht regional erhältlich ist. Ein weiteres: „Ich muss nicht bei jeder Bestellung oder Rechnung gefragt werden: Jedes Teammitglied kann bis zu 3.000 Euro pro Jahr selbstverantwortlich für unternehmerische Belange einsetzen.“
Doch die Auswirkungen können auch größere Dimensionen annehmen, erläutert Stefanie Aufleger: „Kann ich es als Unternehmen eigentlich akzeptieren, Services oder Material von einem Lieferanten zu erwerben, der mit seinen Mitarbeitenden nicht gut umgeht? Und solche Anbieter gibt es nicht nur auf der anderen Seite des Globus.“ Die Frage laute dementsprechend: „Will ich mit meinem Geld ein Unternehmen unterstützen, das komplett andere Werte verfolgt als ich?“ Allein die Diskussion darüber sorge für ein bewussteres Handeln, ist sich die Beraterin gewiss.
mrk
Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland e. V., Berlin:
Zentrale Plattform der Bewegung mit Informationen und Ansprechpartnern für alle Stakeholder – www.germany.ecogood.org
Beitrag zu Corporate Social Responsibility (CSR): www.wirtschaft-im-suedwesten.de – Nachhaltigkeit mit System
Beitrag zur Nachhaltigkeitsberichterstattung oder Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD): www.wirtschaft-im-suedwesten.de – Besser schon jetzt vorbereiten