Europa und die Europäische Union befinden sich im Umbruch. Wirtschafts- und finanzpolitische Krisen haben unseren Kontinent erschüttert. Fragen von Migration und Zuwanderung haben heftige Debatten ausgelöst. Und unser einmaliges europäisches Modell von Frieden, Freiheit und Wohlstand sieht sich Herausforderungen aus aller Welt gegenüber. Herausforderungen, die unsere Art zu leben in politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht infrage stellen.
Europa braucht deshalb heute nichts dringender als überzeugte Europäerinnen und Europäer. Das gilt auch für die baden-württembergische Wirtschaft. Europa braucht den Einsatz der Unternehmerinnen und Unternehmer aus dem Land. Vermeintlich vornehme Zurückhaltung können wir uns nicht mehr leisten.
Ökonomisch die bessere Wahl
Was geschieht, wenn Europa keine Fürsprecher mehr hat, erleben wir in Großbritannien. Für eine Mehrheit der Briten verkörperte der Brexit das Versprechen einer glänzenden Zukunft. Die Realität zwei Jahre später sieht anders aus. Das Pfund und mit ihm die Kaufkraft der Briten ist gesunken, die Investitionen in den Wirtschaftsstandort UK gingen zurück und liegen weit hinter dem OECD-Durchschnitt. Nur ein halbes Dutzend Staaten waren zudem bislang bereit, mit Großbritannien Handelsabkommen zu schließen. Statt den Freihandel mit den Großen der Welt neu zu organisieren, wurde London lediglich mit Staaten wie Liechtenstein und den Färöer-Inseln handelseinig. Die Europäische Union hat demgegenüber gerade erst ein umfassendes Freihandelsabkommen mit Japan zustande gebracht und kann auf eine Liste von mehreren Dutzend Nationen blicken, die mit dem europäischen Binnenmarkt frei Handel treiben wollen. Die ökonomische Zwischenbilanz ist also eindeutig: Der Abschied aus der EU kennt nur Verlierer – vor allem in Großbritannien selbst.
Europa ist zusammengerückt
Die einmalige Situation eines EU-Austritts hat uns deutlich vor Augen geführt, was wir an Europa haben. 81 Prozent der Deutschen und europaweit 62 Prozent der Befragten sehen in der EU-Mitgliedschaft ihres Staates laut dem Eurobarometer inzwischen eine gute Sache. Die Europäische Union kann natürlich noch besser werden. Kritik ist erlaubt und notwendig, beispielsweise angesichts der Brüsseler Leidenschaft für bürokratische Überreglementierungen. Aber insgesamt ist die EU nicht nur ein funktionierender Wirtschaftsraum, sondern darüber hinaus eine stabile Werte- und Rechtsgemeinschaft. Wir wollen nicht nur Handel treiben, sondern auch unsere Interessen verteidigen. Das gilt hinsichtlich technologischer Standards ebenso wie in sozialer und ökologischer Hinsicht. Das gilt vor allem aber für unser freiheitliches Gesellschaftsmodell. Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind keine Nebeneffekte des Binnenmarktes, sondern Kernelement der europäischen Einigung.
Europa muss Mehrwert bieten
Wer Europa als politisches Projekt sieht, der muss auf die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union andere Antworten finden, als derjenige, der sich nur eine gut ausgebaute Freihandelszone wünscht. Ein Unterschied, der manch divergierende Sichtweise zwischen London auf der einen und Berlin, Paris oder Rom auf der anderen Seite erklärt. Der Mehrwert der EU definiert sich für mich deswegen nicht allein über die riesige Bedeutung für unsere Exportwirtschaft. Der Mehrwert Europas wird sich künftig mindestens ebenso in anderen Bereichen erweisen: Europa muss Sicherheit nach innen wie außen garantieren, muss für Grenzschutz und Cybersicherheit sorgen und seine Verteidigung gemeinsam organisieren. Denn erst ein sicheres und global handlungsfähiges Europa wird langfristig auch ein prosperierendes Europa sein können. Gemeinsame Investitionen in Digitalisierung und künstliche Intelligenz, in die Vollendung des Binnenmarktes oder grenzüberschreitende Infrastrukturprojekte werden den europäischen Mehrwert noch spürbarer werden lassen. Am Ende könnte eine Europäische Union, die sich auf die großen Fragen konzentriert und gleichzeitig Spielräume für Entscheidungen in den Kommunen, Regionen und Ländern lässt, aus den Krisen der Vergangenheit gestärkt hervorgehen. Die Weichen dafür werden in den kommenden Monaten, unter anderem durch die Entscheidung über den mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre nach 2021, gestellt.
Europa braucht unser Engagement
Wer das Gelingen des europäischen Projekts will, der muss deswegen jetzt handeln, muss seine Vorstellungen formulieren und seine Stimme erheben. Die Landesregierung hat dies mit ihrem von Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden erarbeiteten Europaleitbild getan. Baden-Württembergs Wirtschaft ist allerdings genauso gefordert. Lassen Sie uns trotz aller Herausforderungen gut über Europa reden. Lassen Sie uns Risiken aufzeigen und Chancen betonen, damit am 26. Mai möglichst viele Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger wählen gehen. Europa braucht ein klares Votum, und Europa braucht unsere Unterstützung.
Guido Wolf