Aus der Lehrstelle ist längst eine Leerstelle geworden: Allein in 2023 blieben in Baden-Württemberg 29.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Die Lösung kann nicht in altersgerechten Kampagnen liegen, sondern darin, dass potenzielle Auszubildende ins demografiegebeutelte Deutschland geholt werden. So geschehen durch die Metzgerinnung im Landkreis Lörrach. Dort starteten in 2022 die ersten 13 indischen Metzgerlehrlinge, im Herbst 2023 waren es schon 27.
„Dieses Beispiel ist schon so etwas wie eine Blaupause für uns“, erklärt Simon Kaiser, der vor ein paar Wochen gerade zurück kam aus Indien – ein Vor-Ort-Termin im Dienste der IHK beziehungsweise im dem der Unternehmen, die dringend junge Menschen für nicht besetzte Lehrstellen finden müssen. Der Geschäftsführer Aus- und Weiterbildung bei der IHK Südlicher Oberrhein sieht das Projekt weit entfernt vom „Guerilla-Recruiting“, hätten Länder wie Indien doch eine völlig andere demografische Entwicklung, die augenblicklich noch nicht synchronisiert sei mit einer sich sichtbar im Durchstarten befindenden Wirtschaft.
Simon Kaisers Indien-Besuch ist die Fortsetzung einer ersten Rekrutierungskampagne der IHK in Marokko. Dort wurden jetzt elf Auszubildende angeheuert, auf die vier Unternehmen aus dem Kammerbezirk warten. Sie werden in metallverarbeitenden Berufen ausgebildet, um ihre Unterbringung kümmern sich die Betriebe. „Wir haben bei diesem Projekt auf ein bereits laufendes binationales Abkommen zwischen Deutschland und Marokko zurückgegriffen“, erläutert Simon Kaiser, der hinzufügt: „Die Außenhandelskammer in Marokko übernahm die Rekrutierung, die jungen Menschen, die in der Regel älter als 20 Jahre sind, machen vor Ort einen Deutschkurs am Goethe-Institut. Manche von ihnen bringen bereits berufliche Vorkenntnisse mit, die sie im marokkanischen Bildungssystem, das dem französischen Modell sehr ähnelt, erworben haben.“
Asylmigration versus Erwerbsmigration
Simon Kaiser ist sich darüber im Klaren, dass die Rekrutierung ausländischer Auszubildender vor Ort manchen Menschen unlogisch erscheinen mag, sind doch ohnehin sehr viele Flüchtlinge – unter anderem aus afrikanischen Staaten beziehungsweise dem Maghreb – bereits in Deutschland. „Man muss hier sehr klar zwischen Asylmigration und Erwerbsmigration unterscheiden. Wir haben auch viele Flüchtlinge in Ausbildung, und das ist auch gut so. Die Bürokratie drumherum ist aber vergleichsweise aufwändig. Sowohl vor der Ausbildung als auch dann, wenn es nach der Abschlussprüfung um eine Übernahme in Beschäftigung geht. Dass zum Beispiel eine Ausbildungsduldung keine Arbeitserlaubnis ist, ist für den Laien erklärungsbedürftig und sorgt in der Praxis oft für Frust. Die Fachkräftelücke ist so groß, dass es nicht um die Frage geht ‚Flüchtlinge oder Auslandsrekrutierung‘“ erläutert Kaiser. Vielmehr gehe es darum, Flüchtlinge zügig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sofern keine Abschiebung im Raum steht. Hier steht laut Kaiser der humanitäre Aspekt im Vordergrund. Gleichzeitig bestehe ein volkswirtschaftliches Interesse, diese Menschen in Arbeit zu bringen. „Bei unseren Projekten mit Marokko und Indien geht es nicht um Flucht, sondern darum, dass wir gezielt und an unseren Bedarfen orientiert Menschen anwerben, deren Motivation darin besteht, sich hier ein besseres Leben zu erarbeiten und die in Vorleistung gehen, indem sie und ihre Familie in das Erlernen der deutschen Sprache investieren. Das eine tun und das andere nicht lassen, ist also die Antwort“, zeigt sich Simon Kaiser überzeugt.
Erfahrungen sammeln
Nicht zuletzt deshalb sehen der IHK-Experte und mit ihm auch die Unternehmen auf Azubi-Suche die Auslandsrekrutierung als einen zielführenden Lösungsansatz. „Wir sammeln augenblicklich mit unserem Marokko-Projekt und dann mit dem im Herbst folgenden Indien-Projekt Erfahrungen und bauen Expertise für unsere Mitglieder auf. Es ist wichtig, dass wir Pfade aufzeigen können, die dann auch skalierbar sind, denn natürlich retten elf Azubis aus Marokko nicht unseren Ausbildungsmarkt“, erläutert Simon Kaiser. In der Tat: 29.000 offene Lehrstellen sind eine Hausnummer und ein wichtiger Faktor in der Bewältigung des Fachkräftemangels. „Denn dem“, so Simon Kaiser, „können Unternehmen auch nur begegnen, wenn sie die fehlenden Menschen selbst auf dem gewohnten Niveau ausbilden“.
Text: Doris Geiger
Bild (oben): Adobe Stock/BornHappy
Bild unten: Vertreter der Handwerkskammer (HWK) und der IHK zu Besuch in Indien – im Bild auch der Ende März verstorbene HWK-Präsident Johannes Ullrich (vorn, 3. von rechts)