4 | 2016
Wirtschaft im Südwesten
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Allianz für Bildung will berechenbares Bildungssystem
Wieder mehr „Hirn und Hand“
K
laus Endress, Präsident des WVIB, trug
die Grundgedanken der ungewöhnli-
chen Allianz zusammen. Die Bildungsland-
schaft sei zu einem Babylon geworden.
Niemand habe mehr den Überblick über
Schultypen, Abschlüsse, Titel und Bildungs-
wege – weder in der Sekundarstufe, noch
im Studium. Dies habe zu einer gleichzeiti-
gen Entwertung von dualer Ausbildung und
Studium geführt. Vieles werde heute stu-
diert, was man früher einfach gelernt habe.
Die Überakademisierung habe stellenweise
zu einem Mangel an Menschen geführt, die
mit Hirn und Hand arbeiten können. Ge-
nau solche Menschen aber brauche die
Wirtschaft vor allem im ländlich geprägten
Flächenland Baden-Württemberg.
Hermann Spieß, erster Bevollmächtigter der
IG Metall für Freiburg und Lörrach (er ging
kurz nach dem Pressegespräch in den glei-
tenden Ruhestand), meinte, in den Fabriken
brauche es heute immer mehr Kopfarbeit
und dafür als Voraussetzungen erstens Bil-
dung und dann Ausbildung. Er plädierte für
ein bundesweites Bildungssystem, um im
europäischen Kontext mitspielen zu können.
Wichtig findet er sowohl die betriebliche als
auch die außerbetriebliche Weiterbildung.
Bettina Schuler-Kargoll, Vizepräsidentin
der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg und
gleichzeitig Beiratsmitglied des WVIB, be-
tonte, die Bildungsinhalte der Hauptschule
und Realschule seien früher berechenbar
gewesen und eine sehr gute Basis für die
duale Ausbildung. Ein Studium sei nicht im-
mer der Weisheit letzter Schluss. Hier gelte
es, sowohl bei Eltern als auch bei Schülern
dem Vorurteil zu begegnen: „Wenn ich nicht
studiere, bin ich weniger wert“.
Thomas Albiez, Hauptgeschäftsführer der
IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg, brachte
einige Zahlen ins Spiel: In Deutschland
gebe es mittlerweile 18.000 Studiengän-
ge, X Schularten, aber nur 200 Berufe im
dualen System. Das Problem sei nun, Schul-
karrieren, Schul- und Studienabschlüsse
überhaupt noch miteinander vergleichen
zu können. Die fehlende Vergleichbarkeit
schränke die Mobilität von Arbeitskräften,
die gleichzeitig Eltern sind, ein, weil man
nicht mehr wisse, wie die Schulbildung des
einen im anderen Bundesland festgesetzt
werden könne. Die Bildung müsse zwar ei-
nerseits immer besser werden, aber nicht
nur übers Studium, auch der zweite Bil-
dungsweg sei sehr attraktiv.
Simon Kaiser, Geschäftsführer bei der IHK
Südlicher Oberrhein, berichtete, dass die
mittlere Führungsebene in der Industrie
derzeit meist nicht studiert habe, vielmehr
aus der betrieblichen Praxis stamme. Man
brauche indessen ein breites Spektrum in
der Zukunft: Vom Praktiker althergebrach-
ter Schule bis hin zum Softwareingenieur,
das hänge ganz von der Branche und dem
Unternehmen ab. Er verwies auf die Abbre-
cherberatung an der Uni Freiburg, die klar
in Richtung einer praktischen Ausbildung
deute. Zu einer Veranstaltung seien dort
zuletzt 150 Interessenten gekommen, 70
hatten abgeschlossene Bachelorstudien
hinter sich und seien jetzt im Masterstu-
diengang. Alle erkundigten sich aber nach
der dualen Ausbildung.
Die Forderungen der Runde parteiübergrei-
fend an die Politik:
Ein differenziertes, transparentes, durch-
lässiges und anpassungsfähiges Bildungs-
system aus einem Guss zu entwickeln,
das über Jahrzehnte Bestand hat. Bildung
brauche Berechenbarkeit und Denken in
Generationen.
Eine klar konzipierte und verständlich
kommunizierte Arbeitsteilung zwischen
den Schul- und Hochschultypen sei nötig.
Wenn alle Schulen zum Gymnasium und
alle Hochschulen zur Universität werden
wollten, verliere man an Breite und Tiefe
und gerate in eine praxisferne Schieflage.
Die Allianz plädiert gleichzeitig für Leistung
und Inklusion: Wir brauchten alle und jeden,
müssten aber auch Spitzenleistungen er-
möglichen. Dazu gehöre, die Begabtesten
zu identifizieren und passend weiterzuent-
wickeln. Die staatlichen Anbieter müssten
attraktiver und wettbewerbsfähiger werden,
Bildung aber nach wie vor bezahlbar blei-
ben. Sonst fehlten Talente und man behin-
dere sozialen Aufstieg.
orn
Die Qual der Wahl:
Es gibt 18.000 verschie-
dene Studiengänge in
Deutschland. Wäre da
nicht eine duale Ausbil-
dung besser?
Mitte Februar haben der WVIB,
die IHKs Schwarzwald-Baar-Heu-
berg und Südlicher Oberrhein
sowie die IG Metall Freiburg
und Lörrach in einem Pressege-
spräch die Politik parteiübergrei-
fend aufgefordert, gemeinsam
ein langfristiges Konzept zu
entwickeln, um Hickhack und
Flickwerk in der Bildungsland-
schaft zu beenden.