Vor hundert Jahren hat der Fußball den Rasen verlassen und ist auf eine Filzmatte umgezogen. Der Anpfiff für ein Kultspiel, das aus Schwenningen um die Welt ging.
Villingen-Schwenningen. Das Runde muss ins Eckige? Von wegen. Der Kultspruch des früheren Bundestrainers Sepp Herberger mag für ein stinknormales Fußballspiel gelten. Für die Kundschaft einer kleinen Firma aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis ist das Spielgerät, um das sich die Welt in ihrer Freizeit dreht, ein 12-eckiges und 14-flächiges. Hinzu kommen ein grünes Filz-Spielfeld, zwei Tore, je ein Torwart und ein Feldspieler pro Mannschaft – sowie Ehrgeiz und Geschicklichkeit. Mehr braucht es nicht, um die Herzen der Fangemeinde höher schlagen zu lassen. Tipp-Kick ist mehr als ein Tischspiel: Es gibt einen Deutschen Tipp-Kick-Verband, Bundesligen, Anekdoten, prominente Kunden.
Als dem legendären Fußballlehrer Herberger 1954 mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft das „Wunder von Bern“ gelang, feierte das – aus heutiger Sicht – ebenfalls legendäre Spiel bereits seinen 30. Geburtstag. 70 Jahre später ist das Jahrhundert vollendet. Das Familienunternehmen, die Edwin Mieg OHG, in dritter Generation geleitet von den Cousins Mathias und Jochen Mieg, steht prächtig da.
„In einem normalen Jahr“, erzählt Mathias Mieg, „produzieren wir 200.000 bis 250.000 Figuren.“ Spielfeld, Feldspieler, Torhüter, das alles gibt es in unterschiedlichsten Editionen, dazu weitere Artikel – von Miniatur-Flutlichtmasten bis zum Soundchip, der Nationalhymnen oder Fangesänge speichert und abspielt. Ein 1,20 Meter großer XXL-Kicker kann für 1.790 Euro bestellt werden. Cousin Jochen sagt: „Wenn wir einen Jahresumsatz von 1,5 Millionen Euro erzielen, sind wir glücklich.“
Ein fallender Torwart bringt den Durchbruch
Grundlage für den Erfolg ist die im Wesentlichen unveränderte Spielidee von Großvater Edwin Mieg, dessen Schwarzweiß-Konterfei im Besprechungszimmer in der Dickenhardtstraße 55 in Villingen-Schwenningen neben den Porträts seiner beiden Söhne Peter und Hansjörg an der Wand hängt. „Der Großvater war als Kaufmann viel unterwegs“, erzählt Enkel Mathias. 1924 habe er – eigentlich auf dem Sprung zur nächsten Auslandsreise – in einer Ingenieurs-Zeitung von dem ausgeschriebenen Patent des Stuttgarter Tüftlers Carl Mayer gelesen. Edwin Mieg blieb, kaufte das Patent, brachte das Spiel zur Marktreife. Sein erster wichtiger Schachzug: Die zu leichten Blechfiguren rangierte der Gründer aus, stellte die Produktion um und ließ die Figuren aus Blei gießen. Im ersten Jahr nach Gründung verkaufte er 3.000 Spiele, 1935 schon rund 20.000.
1938 baute Edwin Mieg in der Hardtstraße 21 in Schwenningen ein erstes Fabrikgebäude, zehn Minuten Fußweg von der heutigen Firmenzentrale entfernt. Dort wurden die Kicker nun aus Zink gegossen. Nach dem kriegsbedingten Produktionseinbruch spielte die erwähnte WM-Elf von 1954, ohne es zu ahnen, der Firma Tipp-Kick in die Karten. „Das Jahr war der Durchbruch“, sagt Jochen Mieg. Einer der Gründe: Onkel Peter, mittlerweile Firmenchef, hatte gemeinsam mit Betriebsleiter Franz Rusch den fallenden Torwart „Toni“ entwickelt, namentlich angelehnt an Nationaltorwart Toni Turek. Der aus Kunststoff produzierte Torwart kann – unverändert bis heute – auf Knopfdruck nach rechts oder links fallen. 180.000 Spiele wurden im Jahr des WM-Titelgewinns in Deutschland verkauft.
Figuren gehen mit der Zeit
Auch in der Folge spiegelt die Firmengeschichte die Entwicklung von Sport, Politik und Gesellschaft: Der Bestechungsskandal in der Bundesliga Anfang der 1970er-Jahre sorgte für Umsatzeinbrüche, ebenso wie das frühe Ausscheiden der Nationalelf bei der WM 1978 in Argentinien. Ganz anders die Turniere 1974 und 2006 im eigenen Land. Die Euphorie trieb den Absatz wieder nach oben. Seit der Frauen-WM 2011 in Deutschland gibt es vier weibliche Figuren, und Mitte der 1990er-Jahre hielt die Globalisierung Einzug. Geleitet von einem Agenten wurde eine Spielfiguren-Produktion in Südchina hochgezogen – mit erheblichen Auswirkungen auf die Marge. Den Stückkostenpreis in Deutschland von 1,50 Euro unterbot die chinesische Fertigung um einen ganzen Euro.
Krisenherde bremsen auch den Spielzeughersteller
Aktuell richten die beiden Firmenchefs den Blick vermehrt Richtung Suezkanal. Angriffe der Huthi-Rebellen zwingen Frachtschiffe aus Hongkong auf teure Umwege. Mit an Bord, teils mit vier Wochen Zeitverzug: die im Schwarzwald konzipierten Tipp-Kick-Spiele.
Heute wird nur ein kleiner Teil der Produkte noch im Südwesten produziert. Am Firmensitz ist man zu sechst, sieben weitere Beschäftigte schaffen in Heimarbeit. In der Hauptsache geht es dabei um Sonderproduktionen oder Einzelanfertigungen. Etwa wenn Tote-Hosen-Sänger Campino seinem Kumpel Jürgen Klopp ein Tipp-Kick-Trio mit Trikots von Mainz 05, Borussia Dortmund und FC Liverpool als Gastgeschenk mit nach England bringt.
„Wir haben unser Personal in den Jahren 2013 bis 2015 deutlich reduziert“, erklärt Mathias Mieg. Der höhere Importanteil habe das Unternehmen in gesündere Bahnen gelenkt. Auch die Vertriebswege verändern sich. Weg vom Spielwarenhandel, hin zum Internet: Rund 70 Prozent der Spiele gehen heute über Online-Bestellungen zum Kunden.
Die Entwicklung geht weiter. Neu im Sortiment wird künftig ein Linksfuß sein – sprich: eine Tipp-Kick-Figur für Linkshänder. Den gibt es nämlich noch nicht. Und über das Jubiläumsjahr hinaus sind die Weichen gestellt. Sohn Leonard wechselt nach BWL-Studium und Aufbau eines Stuttgarter Software-Start-ups ins Unternehmen. Die vierte Generation hockt in den Startlöchern. Vieles wird sich ändern. Was bleibt, ist die geniale Spielidee aus dem Jahr 1924. Und ein Ende der Ahnengalerie ist noch lange nicht in Sicht.
Benedikt Brüne
Bilder: Spielszene mit dem allerersten Tipp-Kick von 1924 (oben).
Es geht auch richtig groß: Die beiden Tipp-Kick-Geschäftsführer Jochen Mieg (l.) und Mathias Mieg mit einem XXL-Tipp-Kicker. (Mitte)
Ein Tipp-Kick-Turnier-Endspiel 1973 (unten).
Ambitionierte Tipp-Kick-Cracks können sich für die Deutschen Meisterschaften am 8./9. Juni in der
Neckarhalle in Schwenningen anmelden unter www.tipp-kick.de
Homepage des Deutschen Tipp-Kick-Verbandes unter www.dtkv.info