Neben den großen Platzhirschen in Tuttlingen übersieht man leicht, dass viele weitere Weltmarktführer in der Medizintechnikmetropole operieren. Henke-Sass, Wolf ist so einer. Das Unternehmen ist im August 100 Jahre alt geworden und auf starre Endoskope spezialisiert. Aber nicht nur.
Tuttlingen. In Tuttlingen spricht man noch vom „Spritzen-Henke“. Insofern passt die Tatsache, dass Henke-Sass, Wolf (HSW) seit einigen Monaten eine kleine Sonderkonjunktur bei Einwegspritzen erlebt, die für Covid-19-Impfungen verwendet werden, gut ins traditionelle Bild. Allerdings macht die Spritzenproduktion heute nur noch einen kleinen Teil des Geschäfts aus. Der Tuttlinger Medizintechniker hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auf Endoskopie spezialisiert. Zudem ist HSW mit vielen Produkten in der Veterinärmedizin vertreten und traditionell mit Spritzen für die Dentalmedizin.
Häufig wissen nur Kenner, dass HSW-Technik im Einsatz ist. Denn das Unternehmen ist einer der größten sogenannten OEM-Hersteller von starren Endoskopen. OEM steht für „Original Equipment Manufacturer“, deutsch: Originalausrüstungshersteller, und bezeichnet Firmen, die ihre Produkte nicht unter eigenem Namen verkaufen. Wenn durchs sogenannte Schlüsselloch minimalinvasiv am Knie oder im Bauch operiert wird, ist in vielen Fällen HSW-Technik im Einsatz. Bei sportmedizinischen Operationen ist Henke-Sass, Wolf weltweit der Marktführer.„Wir produzieren für die meisten global führenden Medizintechnikhersteller“, sagt Geschäftsführerin Silke Hartmann. Die Exportquote liege bei 80 Prozent. Hartmann ist im HSW-Führungstrio fürs Kaufmännische zuständig. Ihre Geschäftsführerkollegen Oliver Bärtl und Markus Westhues kümmern sich um Vertrieb, Marketing und Entwicklung beziehungsweise um Produktion, Qualitätsmanagement und Logistik. „Wir sind ein echter Hidden Champion, sowohl in der Human- als auch in der Veterinärmedizin“, sagt Oliver Bärtl. Denn Henke-Sass, Wolf tritt mit seinen Medizintechnikprodukten bei den Anwendern meistens nicht unter dem eigenen Namen auf. Die Kunden sind nicht Kliniken, Ärzte oder Landwirte, sondern Medizintechnik- und Pharmahersteller sowie Handelsunternehmen. Dieses Vertriebsmodell ist sehr erfolgreich, HSW legt jedes Jahr fünf bis zehn Prozent zu. Seit der Jahrtausendwende hat sich der Jahresumsatz von 50 auf rund 200 Millionen Euro etwa vervierfacht. Mit Ausnahme allerdings des vergangenen, pandemiegeprägten Geschäftsjahres (10/2019 bis 9/2020), in dem man einen Rückgang von etwa 30 Millionen Euro verbuchte. Seit Ende 2020 geht es wieder bergauf, und mittlerweile hat HSW das Vorkrisenniveau erreicht, betont Bärtl. Die Zahl der Mitarbeiter liegt aktuell bei rund 1.500 gruppenweit (davon mehr als 500 in Tuttlingen) gegenüber 600 (250 in Tuttlingen) im Jahr 2000.
Veränderungen hat es in der jetzt hundertjährigen Firmengeschichte einige gegeben (siehe Historie unten). Ruhiger im Sinne von erfolgreicher verläuft die Entwicklung, seit der Eigentümer Jochen Busch HSW ab 1976 neu ausgerichtet hat. Etwa zwei Drittel des Umsatzes erzielt das Unternehmen nun auf dem Wachstumsmarkt der Endoskopie. Die Endoskopie, wörtlich das innen Beobachten, entstand schon im 19. Jahrhundert, diente ursprünglich der Diagnostik und entwickelte sich erst in den zurückliegenden Jahrzehnten zur minimalinvasiven Operationstechnik. Dafür müssen Endoskope heute vor allem brillante Bilder liefern und nach dem Gebrauch gut für den nächsten Einsatz wiederaufbereitet werden können – „Autoklavierbarkeit“ heißt das in der Fachsprache. „Das bekommen wir beides besonders gut hin“, sagt Markus Westhues. Der Zukauf eines Mikrooptikspezialisten garantiert die Qualität der endoskopischen Bildgebung. Zudem sind die HSW-Geräte lasergeschweißt und gelötet, deshalb besonders dicht und robust, sodass sie die regelmäßige Reinigung und Sterilisation bei 134 Grad unbeschadet überstehen. Ein Endoskop wird in der Regel drei Jahre alt und kommt in dieser Zeit durchschnittlich fünf Mal zur Reparatur. Neben der Produktion neuer bietet HSW auch die Wartung bestehender Produkte an. Weil die USA ein wichtiger Markt sind, hat Henke-Sass, Wolf dort 1991 die erste ausländische und nach Tuttlingen mittlerweile größte Niederlassung gegründet, die vor allem für Reparaturen auf dem amerikanischen Markt und für die Endmontage von Endoskopen zuständig ist.
Auch mit dem zweiten Standbein, der Veterinärsparte, ist Henke-Sass, Wolf weltweit vertreten – überall da, wo es große Bestände an Nutztieren gibt. Rinder, Schweine, Hühner, Lachse brauchen Medizin beziehungsweise heute zunehmend Impfungen (um den Antibiotikaeinsatz reduzieren zu können), und HSW hat die Applikatoren dafür. In Tuttlingen und bei den Tochtergesellschaften entstehen hunderte verschiedene, dem jeweiligen Tier angepasste Produkte, klassische Veterinärspritzen ebenso wie nadellose Injektoren (Bild), die äußerlich an Akkuschrauber erinnern und den Wirkstoff mit Druckluft schmerzfrei, schneller und schonender ins Tier bringen. Etwa ein Drittel des Umsatzes erzielt HSW mit diesen Spritzen und anderen Veterinärprodukten. So gesehen trifft der alte Name Spritzen-Henke auch heute noch teilweise zu.
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Historie
1921 eröffnet der Instrumentenmacher Georg Andreas Henke in Tuttlingen seinen Gewerbebetrieb, etabliert sich bald als Qualitätshersteller wiederverwendbarer Spritzen, wächst mit der Verbreitung von Insulin und produziert ab 1938 auch Kanülen. Den Aufschwung nach dem zweiten Weltkrieg verdankt Henke dem Penicillin und einer eigenen Innovation: Spritzen mit austauschbaren Glaszylindern.
1922 gründet Albert Sass in Berlin sein auf optische Instrumente wie Endoskope spezialisiertes Unternehmen; kurz danach tritt Robert Wolf als Teilhaber ein, das Unternehmen firmiert als Sass, Wolf & Co.
1956 kauft Henke eine Fabrik in der Tuttlinger Kronenstraße. Hier bleibt bis 2008 der Firmenhauptsitz. Heute ist das Gebäude Teil des zur Hochschule Furtwangen gehörenden Campus Tuttlingen, an dem HSW als Sponsor beteiligt ist.
1961 expandiert Georg Henke nach Berlin. Um sein Geschäft zu erweitern, kauft er die Deutsche Endoskopgesellschaft Sass, Wolf & Co; deren Sitz bleibt vorerst Berlin.
1965 verkauft der 73-jährige Henke sein Unternehmen mangels Nachfolger an den US-Konzern Litton Industries, der es auf die Fertigung von Kunststoffprodukten wie Einmalspritzen ausrichtet.
1972 fusioniert Litton die beiden deutschen Töchter zur Henke-Sass, Wolf GmbH (HSW), löst den Betrieb in Berlin auf und verlegt die Endoskop-Produktion nach Tuttlingen.
1976 stößt Litton HSW wieder ab, weil es nicht profitabel ist. Almo-Inhaber Jochen Busch aus dem nordhessischen Bad Arolsen übernimmt. Nach schwierigen Anfangsjahren gelingt ihm die Neuausrichtung mit der Spezialisierung auf Endoskope.
2008 verlegt HSW seinen Hauptsitz von der Kronen- in die Keltenstraße im Tuttlinger Vorort Möhringen. Im gleichen Jahr treten Jochen Buschs Töchter Kathrin McKenna und Nina Stackmann ein, um die Kontinuität als Familienunternehmen zu gewährleisten.
2021: Im Jubiläumsjahr beschäftigt HSW an den drei deutschen Standorten sowie in Polen, den USA und China insgesamt 1.450 Mitarbeiter, davon etwa 450 in Tuttlingen.