US-Konzerne tun es schon länger, nun entdecken auch immer mehr Unternehmen hierzulande das Potenzial, das die Kooperation mit Start-ups bietet. Eindrücke und Beispiele aus dieser Region.
Während die Zahl der Unternehmensgründungen seit Jahren zurückgeht, liegt Gründerkultur absolut im Trend. Das zeigt sich an Büroeinrichtungen genauso wie an Dresscodes, die selbst in Chefetagen in den vergangenen Jahren legerer geworden sind. Doch das Interesse von Grown-ups an Start-ups beschränkt sich nicht auf Äußerlichkeiten. Es überträgt sich auf Arbeitsabläufe sowie Denkprozesse und mündet häufig in eine Zusammenarbeit. Fast jedes zweite große Familienunternehmen kooperiert mittlerweile mit einem oder mehreren Start-ups. Das geht aus einer Studie des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) hervor, für die es im Frühjahr bundesweit rund 250 Familienunternehmen mit einem Umsatz über 50 Millionen Euro befragt hat. Regionale Zahlen gibt es bislang nicht, aber zwei Aspekte dieser Studie lassen sich auf den Südwesten übertragen: Zum einen ist die Firmengröße entscheidend. Je größer das Unternehmen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es mit Start-ups zusammenarbeitet. In der IfM-Studie gab jedes dritte Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern an, mit Start-ups zu kooperieren, bei Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern waren es doppelt so viele.
Zum anderen ist das Motiv für Kooperationen überall das gleiche: Das Erschließen neuer Technologien und das Gestalten der digitalen Transformation wurden in der Studie am häufigsten genannt. Von diesen strategischen Zukunftsthemen sind regionale Unternehmen natürlich gleichermaßen betroffen. Internet, Smartphones und Digitalisierung haben die Rahmenbedingungen für Unternehmen radikal verändert. Geschäftsmodelle, die jahrzehntelang funktionierten, stehen auf dem Prüfstand, sicher geglaubte Marktanteile werden neu verteilt. „Der Veränderungsdruck ist größer geworden“, sagt Michael Bertram, Leiter des Geschäftsbereichs Existenzgründung und Unternehmensförderung der IHK Südlicher Oberrhein. „Das macht offen, neue Wege zu gehen.“ An den Nachrichten von Verbänden und Firmen lässt sich dieser Druck ablesen. Es häufen sich Meldungen über Inkubatoren, Acceleratoren und andere Formen der Kooperation zwischen etablierten und neuen Firmen. „Junge sind unbelastet und frei in ihrer Kreativität“, beobachtet Thomas Wolf, Geschäftsbereichsleiter der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg. Das verlieren Größere manchmal. Durch eine Zusammenarbeit können die Etablierten daran teilhaben. „Und das Vernetzen selbst ist gerade etwas, das man von Start-ups lernen kann“, betont Alexander Vatovac, Gründungsberater der IHK Hochrhein-Bodensee. So gibt es denn auch im Regierungsbezirk Freiburg immer mehr Beispiele dafür, dass junge und etablierte Firmen voneinander profitieren.
Wie anregend das Aufeinandertreffen von Grown-ups und Start-ups sein kann, zeigt sich an einem warmen Spätsommerabend im September. Das Gründerzentrum Grünhof hat in seinen Kreativpark Lokhalle auf dem ehemaligen Freiburger Güterbahnhof eingeladen. Es ist der Kick-off, der Startschuss ihres Camps, eines vierwöchigen Förderprogramms für grüne Gründungen aus ganz Deutschland. Unter Mittdreißiger in kurzen Hosen und mit Dreitagebart mischen sich ältere Semester. Schon vor dem offiziellen Teil entwickeln sich muntere Gespräche. Dann wird begrüßt und gepitcht, das heißt die 14 Gründerteams stellen sich und ihre Geschäftsidee in je drei Minuten vor. Und im Anschluss geht bei Wein und Biolimonade das Netzwerken weiter.
Peter Neske gefällt die Stimmung. „Das ist sehr inspirierend“, sagt der Leiter Business Innovation von Pfizer. „Vor allem, weil die Start-ups selbst so überzeugt von ihrer Idee sind.“ Der große Pharmakonzern Pfizer betreibt in Freiburg eine seiner bedeutendsten Produktionen mit über 1.000 Mitarbeitern. Innerhalb des Konzerns und der Branche gilt der Standort als Vorreiter hinsichtlich Materialeffizienz, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. „Als Technologieführer brauchen wir ständig neue Ideen“, sagt Neske. Weil die nicht alle aus den eigenen Reihen kommen können, hat sich der Pharmakonzern eine Plattform geschaffen. Das sogenannte Pfizer Healthcare Hub, dessen Freiburger Teil Neske leitet, sucht gezielt die Zusammenarbeit mit Start-ups und anderen Innovatoren. So zum Beispiel mit Envuco, einer kleinen Kenzinger Firma, die einer der Campteilnehmer ist, zu Pfizer aber schon davor Kontakt hatte. Denis Bittner, der Gründer, hat „die umweltfreundlichste Gebäudeautomation der Welt“ entwickelt und sich vor knapp einem Jahr mit einem Betriebswirt zusammengetan. Seither hat Envuco Fahrt aufgenommen. Es gibt viele Interessenten für das Produkt, und derzeit verhandeln die Gründer mit einem Investor über eine potenzielle Seed-Finanzierung. Außerdem startet jetzt das Pilotprojekt mit Pfizer. In eines der Bürogebäude wird die laut Bittner „weltweit erste grüne Gebäudeautomation“ installiert. Deren Herz heißt „SAM“ und ist eine smarte Zentrale, die batterie- und kabellose Sensoren miteinander vernetzt und dabei hilft, den Energieverbrauch zu messen und zu reduzieren.
Der Weg zu diesem fertigen Produkt war weit, und Pfizer hat Envuco dabei ein gutes Stück begleitet. Als sich das große und das kleine Unternehmen vor gut einem Jahr das erste Mal bei einem Pitch trafen, war es noch eher eine Idee als ein fertiges Produkt, berichtet Bittner. Auch mit dem Feedback von Pfizer hat er sie stetig weiterentwickelt. „Sie schaffen ständig neue Ideen und Erfahrungen heran“, lobt Peter Neske die Newcomer. Und die wissen umgekehrt die Zusammenarbeit mit der großen Pharmafirma sehr zu schätzen. „Pfizer hat sich sehr offen gegenüber Startschwierigkeiten gezeigt und ist enorm kooperativ in der Lösungsfindung“, sagt Bittner. Wenn das Projekt gut läuft, wird es vielleicht auf ein weiteres Gebäude in Freiburg ausgeweitet und womöglich sogar auf andere der 63 Pfizer-Standorte weltweit. „So einen Kunden zu gewinnen, ist als junges Unternehmen extrem wichtig“, sagt Bittner. „Pfizer ist ein Multiplikator auf den wir sehr stolz sind.“
Ähnliche Erfahrungen hat die Konstanzer Firma „8tree“ gemacht, deren 3D-Scanner mittlerweile Fluggesellschaften weltweit die Schadenerkennung wesentlich erleichtert. Ihre Geschichte beginnt 2012 mit dem Verkauf der Breuckmann GmbH in Meersburg, für die Erik Klaas 20 Jahre lang gearbeitet hatte, zuletzt als Entwicklungsleiter. Der Eigentümerwechsel veranlasste den Photoingenieur dazu, seinen Jugendtraum einer eigenen Firma in die Tat umzusetzen. Vom Neustart überzeugte Klaas auch seinen Kompagnon Arun Chhabra, einen US-Amerikaner, den Klaas als Lieferanten seines ehemaligen Arbeitgebers kannte und der auch gerade ein neues Betätigungsfeld suchte, sowie seine ehemalige Kollegin Pia Böttcher, Informatikerin mit Master in Businessadministration, die damals in England lebte.
In drei Homeoffices auf zwei Kontinenten arbeiteten sie an einem Produkt und hatten – mithilfe von vielen alten Kontakten – nach einem halben Jahr einen Prototypen ihres 3-D-Scanners fertiggestellt, mit dem sie bei Airbus in Manchester auf der Matte standen. Rückblickend findet Klaas das sehr mutig. Denn diese erste Version war noch abgespeckt im Vergleich zum heutigen Modell. Es dauerte zwei Jahre und viele Überarbeitungen, bis das Produkt marktreif war. Ihr Glück: „Es gab bei Airbus einen Mitarbeiter der von unserem System überzeugt war“, berichtet Klaas. „Das hat uns sehr geholfen, wir haben die Anregungen immer wieder verwertet.“ So änderte sich beispielsweise schnell ihre Zielgruppe. Ursprünglich hatten er und seine Kollegen Flugzeugbauer wie Airbus im Visier, die Nietüberstände oder andere Unebenheiten am Flugkörper erkennen und beseitigen müssen. Dieser Markt ist allerdings recht überschaubar: Airbus produziert rund 700 Flugzeuge pro Jahr, ähnlich wie der Konkurrent Boeing. Dagegen sind ständig rund 20.000 Maschinen in der Luft und müssen nach jedem Einsatz intensiv begutachtet werden, weil in der Luftfahrt selbst kleinste Dellen die Sicherheit beeinträchtigen können. Die Gründer spezialisierten ihren Scanner deshalb auf Schadenmessung und öffneten sich damit einen wesentlich größeren Markt. Die Luftfahrt ist eine konservative Industrie, für Neulinge ist es schwierig, hier Fuß zu fassen. Umso wichtiger war die Unterstützung von Airbus, betont Böttcher.
Seine Technologie hat sich „8tree“ international patentieren lassen. Zusammen mit der offiziellen Zertifizierung von Airbus, die den sogenannten „dentCHECK“ zur Reparatur empfiehlt, stehen dem Start-up nun alle Türen offen. Der Umsatz wird sich dieses Jahr voraussichtlich auf zwei Millionen Euro verdoppeln. Rund 70 Geräte hat „8tree“ mittlerweile gebaut und etwa die Hälfte weltweit verkauft, die andere Hälfte wird für Demonstrationen genutzt. Auf der Referenzliste stehen die Namen vieler bekannter Fluggesellschaften wie American Airlines, Delta, Easyjet, KLM oder Air France. Zu vielen weiteren gibt es Kontakte. Die Produktion ist ausgelagert, ebenso wie alles andere, das nicht zur Kernkompetenz zählt – bislang auch der weltweite Vertrieb. „Alles, was geht, machen wir nicht selbst“, sagt Böttcher. „8tree“ beschäftigt sechs Mitarbeiter in Deutschland, weitere drei in den USA. Vor zwei Jahren ist das Start-up von Meersburg nach Konstanz gezogen, wegen der besseren Internetverbindung und weil es in der Unistadt leichter ist, Fachkräfte zu finden. Hier entdecken die Unternehmer, die ihre Kontakte immer global suchten, nun den Nutzen der Nähe. Lange hatten sie nach einer zu ihnen passenden Cloudlösung gesucht. Gefunden haben sie die jetzt vor der Haustür. Die Konstanzer IN-GmbH, die sie auf einem Treffen des Netzwerks Cyberlago kennenlernten, bietet die richtige Technologie. Bislang ist „8tree“ organisch gewachsen, doch man sei „permanent mit möglichen Investoren im Gespräch“, so Klaas. Mit Fremdkapital könnte die Firma beispielsweise den eigenen Vertrieb ausbauen, neue Anwendungsfelder erschließen oder die Technik digitalisieren.
Digitalisierung ist mittlerweile selbst in Operationssälen ein Thema. Wie lässt sich beispielsweise die Versorgung mit Nahtmaterial, Implantaten und anderen Verbrauchsgütern im OP automatisieren? Und lassen sich Infektionen im OP mit der Erfassung bestimmter Daten reduzieren? An diesen und anderen Fragen tüfteln Teams im Tuttlinger Werk 39. Die Atmosphäre in dem Innovationslabor wirkt ungezwungen und kreativ, ein bisschen wie in einer Wohngemeinschaft mit vielen gelben Zetteln und Zeichnungen an den Wänden, einer Kaffeeküche und großem Tisch mittendrin. „No ties“ steht auf einer der Stufen, die zu den Räumen führen. Hier trägt niemand Krawatte, und statt Hemd und Lederschuhen dominieren T-Shirt und Turnschuhe. „Ich musste meine Garderobe komplett umstellen, als ich hier angefangen habe“, berichtet Anton Feld, der als Projektberater, sogenannter Venture Consultant arbeitet. Typisch Start-up? Weit gefehlt. Das Werk 39 ist ein Innovationslabor des Medizintechnik- und Pharmaherstellers B.Braun Melsungen, angesiedelt bei dessen Tuttlinger Tochter Aesculap, die hier seit Frühjahr 2017 Innovatoren aus den eigenen Reihen brüten lässt. Die lockere Atmosphäre soll die Kreativität fördern, damit auch Angestellte unternehmerisch arbeiten können. „Intrapreneurship“, nennt Sören Lauinger, der Erfinder und Leiter von Werk 39, das Prinzip. „Wir setzen die Start-up-Methodik intern um.“
Einmal im Jahr gibt es einen konzernweiten „Call for Action“, einen Aufruf, Projektideen einzureichen. Eine mit in- und externen Fachleuten besetzte Jury filtert dann die vielversprechendsten Teams heraus, die für ein halbes Jahr ins Werk 39 ziehen und fokussiert an ihrem Projekt tüfteln dürfen. Wie viel Zeit sie dafür haben, hängt vom jeweiligen Chef ab. Wenige werden ganz freigestellt, durchschnittlich verbringen die Innovatoren knapp die Hälfte ihrer Arbeitszeit im Werk 39 beziehungsweise unterwegs für das Projekt. Kundennähe wird großgeschrieben, schließlich geht es gerade um Entwicklungen in Vertrieb und Service – „beyond the product“ heißt das neudeutsch. Das Team um Sören Lauinger hat, damals noch als Teil des Aesculap-Produktmanagements, schon vor über zehn Jahren begonnen, über das Produkt hinaus zu denken und an zusätzlichen Leistungen für Kunden zu arbeiten. „Selbst überlegene Produktqualität allein reicht irgendwann nicht mehr aus“, betont Lauinger. „Wir müssen den Kunden deshalb value added Servicepakete anbieten.“
Bei der Entwicklung dieses Zusatznutzens geht es vor allem um Software und Digitales, also nicht gerade Kernkompetenzen eines Medizintechnikunternehmens. Woher nehmen? Lauinger schaute bei vielen anderen Firmen, wie die sich Ideen holen, und entschied sich für ein internes Innovationslabor, auch weil der Mutterkonzern B.Braun parallel ein Acceleratorprogramm aufbaute. Lauinger war es wichtig, das Werk 39 außerhalb des Aesculap-Campus anzusiedeln. Und schnell sollte es gehen. Wie die Projekte, die es begleitet, ist das ganze Innovationslabor ein Experiment, ein Ausprobieren. Deshalb baute man, wie sonst im Stammhaus oft üblich, nicht selbst, sondern mietete drei Etagen in einem Nachkriegsbau im nördlichen Teil von Tuttlingen.
Das Werk 39 entwickelte seine eigene Corporate Identity und bietet den Innovatoren nun einen geschützten Raum für ihre Ideen. Bislang haben sechs Teams hier gearbeitet, demnächst ziehen zwei neue ein. Sie werden von acht fest angestellten Beratern betreut, vor allem hinsichtlich des Prozesses und der Methodik. Regelmäßig werden dabei Sinn und Nutzen für den Kunden hinterfragt. Die Teams müssen wie Start-ups vor einer Jury pitchen, also ihre Idee präsentieren. Und auch mit echten Start-ups hat das Werk 39 häufig zu tun, wenn die Lösung für ein Problem schon von einem anderen Unternehmen entwickelt wurde. „Make or buy“, also selbst entwickeln oder kaufen, sei da die Frage, erklärt der Consultant Anton Feld. „Uns ist es lieber, wir finden jemanden, weil es dann schneller geht.“ In der Hälfte der bisherigen Projekte war das der Fall. Bei Kooperationen kommt dem Werk 39 zugute, dass es selbst eben doch kein Start-up, sondern Teil des Konzerns ist. Denn für Externe ist der Marktzugang, den sie über die Zusammenarbeit mit Aesculap bekommen, sehr hilfreich. „Es ist immer ein Geben und Nehmen“, sagt Feld.
Kathrin Ermert
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Kontakt
IHK Hochrhein-Bodensee: Alexander Vatovac, Tel. 07531 2860-135, alexander.vatovac@konstanz.ihk.de
IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg: Thomas Wolf, Tel. 07721 922-515, wolf@vs.ihk.de
IHK Südlicher Oberrhein: Michael Bertram, Tel. 07821 2703-630, michael.bertram@freiburg.ihk.de