Psychische Probleme bei jungen Menschen nehmen zu, nicht nur wegen der Coronapandemie. Gerade am Übergang von der Schule in den Beruf können sie dramatische Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben. Dem will das Projekt „Supported Employment and Education“ (SEE) des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Reichenau entgegenwirken. Es unterstützt 18- bis 25-Jährige mit oder nach psychischen Krisen, damit sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß fassen.
Michael Müller, der im richtigen Leben natürlich anders heißt, ist 23 Jahre alt und wohnt bei seinen Eltern. Seit seinem Hauptschulabschluss hat er keine beruflichen Schritte getan. Er verbringt die meiste Zeit zu Hause mit Computerspielen. Kontakt zu Gleichaltrigen hat er nicht. Er ist kein Einzelfall. „Es gibt viele Stolpersteine beim Eintritt ins Berufsleben“, weiß Daniel Nischk. Der Psychologe leitet das SEE-Projekt am ZfP Reichenau. Er beobachtet, dass psychische Erkrankungen insbesondere dann auftreten, wenn sich Probleme wie soziale Benachteiligung oder Migrationshintergrund häufen. Wobei sich die Fälle quer durch alle Schichten und Bildungsgruppen verteilen. Die Gründe dafür sieht Nischk etwa in einer zunehmenden Vereinzelung und darin, dass sich junge Leute immer mehr unter Druck fühlen – von den Anforderungen des Arbeitsmarktes und oft schon in der Schule. Sie sind weniger selbstständig, zugleich ist ihnen Autonomie und Entscheidungsfreiheit aber sehr wichtig und kann sie daran hindern, Hilfe überhaupt anzunehmen. Ein Problem gerade bei jungen Männern. Nischk weiß, wie wichtig das Alter zwischen 20 und 30 Jahren, das sogenannte Adulting, ist. Da passiert viel im Leben. Und eine zentrale Rolle spielt dabei neben der Partnerschaft und der Wohnsituation die Arbeit. Sie hat sogar eine Multiplikatorfunktion, betont Nischk, denn damit wird anderes erst ermöglicht.
„Ein beruflicher Abschluss ist die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben“, sagt Susanne Hauk. Die Sozialpädagogin gehört zum vierköpfigen Supported-Employment-Team der ZfP Reichenau und sieht, welche Folgen es haben kann, wenn der Übergang von der Schule in den Beruf holpert: „Manche fallen durch die Maschen des Unterstützungsnetzes.“ Das könne dramatische Folgen haben. Die Arbeitslosenstatistik zeigt, dass die Hälfte der Langzeitarbeitslosen keine abgeschlossene Ausbildung hat. „Die Exklusion, der Umstand, dass man aus dem System fällt, verursacht hohe Kosten. Oft lebenslang“, betont Hauk. Und zwar sowohl für die Betroffenen als auch für die Allgemeinheit. Dagegen mutet das SEE-Budget sehr bescheiden an: Das Projekt, das zunächst zwei Jahre lief und nun für weitere zwei Jahre verlängert wurde, kostet 170.000 Euro pro Jahr und wird je zur Hälfte vom Europäischen Sozialfonds und vom ZfP Reichenau finanziert. Hauk beobachtet, dass vielen jungen Menschen mit psychischen Problemen und ihren Familien die langfristigen Auswirkungen nicht bewusst sind. Die Angst vor der Stigmatisierung scheint größer als die vor den Folgen der Erkrankung. Außerdem seien viele Betroffene und ihre Angehörigen mit den Hilfsangeboten überfordert. „Die bräuchten einen Lotsen“, sagt Hauk. Genau das wollen sie und ihre Kollegen für die jungen Menschen im SEE sein.
Aktuell betreuen sie 19 Teilnehmer, die bei ihnen Klienten heißen. Seit vergangenem Jahr ist Michael Müller einer von ihnen. Er hatte eine Psychose erlitten, war deshalb stationär ins ZfP Reichenau und dort zum SEE gekommen. Der Zugang zu dem Projekt ist bewusst niederschwellig, es gibt keine behördlichen Hürden. Was kann SEE für ihn tun? „Sehr viel“, sagt Hauk. Sie sieht sich als „koordinierende Bezugsperson“. Sie bündelt alles, kümmert sich um alle Belange, nimmt die Klienten fast sprichwörtlich an die Hand. Müller hatte zum Beispiel Angst, sich beim Treffen der SEE-Gruppe, seinem ersten Kontakt zu Gleichaltrigen seit Langem, zu blamieren. Denn er hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche, und auf dem Boden lagen Zettel und Stifte. Da war es hilfreich, dass Susanne Hauk, die er schon kannte, ihn begleitete.
Die regelmäßigen Treffen, sie heißen beim SEE Seminartage, sind ein wichtiger Teil des Projekts. Ohne Pandemie gehen die jungen Leute dann beispielsweise ins Theater oder segeln. Neben der Erlebnispädagogik steht natürlich der Kontakt zur Arbeitswelt im Fokus. Dafür arbeitet das SEE-Team auch mit der IHK Hochrhein-Bodensee zusammen. Die Klienten besichtigen Unternehmen, machen Bewerbertrainings, besuchen Jobmessen. Zudem sollen sie ihre Schlüsselqualifikationen erweitern. Es gibt Referate zu Themen wie dem Umgang mit Geld, Schnäppchenkauf im Internet oder Einfluss sozialer Medien. Eine wichtige Funktion der Treffen ist die Begegnung der Jugendlichen. „An Seminartagen merkt man, dass man nicht die Einzige ist, die Unterstützung braucht“, hat eine Klientin gesagt. Ein anderer: „Durch die Gruppe fühle ich mich nicht auf mich allein gestellt.“ Um diesen Effekt zu verstärken, will das SEE-Team sogenannte Peers als Genesungsbegleiter miteinbeziehen. Denn gegenüber Gleichaltrigen mit ähnlichen Erfahrungen sind die Betroffenen aufgeschlossener.
Corona hatte auf die Nachfrage nach SEE gar keine so große Auswirkung – die war ohnehin sehr hoch. Allerdings erschwerte die Pandemie die Arbeit des Projekts, berichtet Hauk. Zwar konnten die Coachings in gleicher Frequenz stattfinden, manchmal online oder bei einem Spaziergang. Aber es war schwieriger, Praktikumsplätze für die Klienten oder Termine bei Behörden zu bekommen. Zudem fielen Branchen wie die Gastronomie und anfangs das Gesundheitswesen als Arbeitgeber weg. Und obwohl die jungen Menschen digitale Natives sind, tun sie sich schwer mit der erforderlichen Digitalisierung. „Sie lesen und schreiben zum Beispiel keine E-Mails“, sagt Hauk. „Da sind wir jetzt noch mehr gefragt zu vermitteln.“ Bei Michael Müller hat das wohl geklappt. Er macht derzeit ein Praktikum in einer Schreinerei und hofft auf eine Lehrstelle. Sein Ziel: eine Ausbildung, Geld verdienen und eine eigene Wohnung.
kat
Kontakt
Supported Employment & Education:
Susanne Hauk
Tel. 07531 977-8703
IHK Hochrhein-Bodensee:
Ansprechpartnerin Petra Böttcher
Tel. 07531 2860-154
petra.boettcher@konstanz.ihk.de