Viele bewährte Medizinprodukte werden vom Markt verschwinden. Grund ist ausgerechnet die neue Europäische Medizinprodukteverordnung (MDR), die für mehr Patientensicherheit sorgen soll. Julia Steckeler, Geschäftsführerin von Medical Mountains, über die Herausforderungen für regionale Hersteller.
Frau Steckeler, wie ernst ist die Lage?
Im Moment sind erst circa 15 Prozent der Bestandsprodukte überführt worden. Wir haben noch etwas mehr als anderthalb Jahre für die restlichen 85 Prozent. Und die benannten Stellen brauchen schätzungsweise zwischen zwölf und 18 Monaten, um eine Produktakte zu zertifizieren. Viele Hersteller, die ihre Produkte neu zertifizieren lassen wollen, bekommen im Moment gar keinen Kontakt zu einer „Benannten Stelle“, weil die keine Kapazitäten haben. Findet die Überführung nicht rechtzeitig statt, bevor das alte Produktzertifikat ausläuft, dürfen die Unternehmen dieses Produkt nicht mehr in den Markt bringen. Es sieht aktuell nicht gut aus. Die Zeit läuft davon.
Zur Person
Julia Steckeler ist Geschäftsführerin der Medical Mountains GmbH mit Sitz in Tuttlingen. Die Industrieinitiative verfolgt das Ziel alle Akteure der Medizintechnikbranche zu vernetzen und zu unterstützen. Medical Mountains hat im April gemeinsam mit dem DIHK und dem Industrieverband für Optik, Photonik, Analysen- und Medizintechnik Spectaris eine Umfrage bei Medizintechnikunternehmen durchgeführt, die ihre Produkte nach den Vorgaben der Europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) neu zertifizieren müssen (siehe Kasten). Die Ergebnisse der Umfrage, in der die Unternehmen einen erheblichen Rückstau bei den Zertifizierungen schildern, kann über medicalmountains.de kostenfrei angefordert werden.
Das heißt, dass Produkte vom Markt verschwinden werden?
Ja. Im Moment sind Unternehmen im Prinzip dazu gezwungen, sich aufgrund der MDR auf weniger Produkte zu fokussieren, weil sie es nicht schaffen werden, alles in die MDR zu überführen – weder zeitlich, noch mit Blick auf die Kosten. Die Umsetzung der neuen rechtlichen Vorgaben ist mit großen finanziellen und zeitlichen Herausforderungen verbunden. Wenn man am Ende finanziell drauflegen muss, um ein Produkt am Markt zu halten, ist das wirtschaftlich logischerweise nicht machbar. Die Unternehmen werden in den nächsten zwei, drei Monaten weitere Entscheidungen fällen, welche Produkte sie noch weitertragen und welche nicht. Und wenn diese Entscheidungen gefallen sind, werden sie nicht mehr so leicht rückgängig gemacht.
Welche Folgen hat das für Patienten und Unternehmen?
Produkte werden vom Markt verschwinden. Und diese Produktabmeldungen werden alle Anwendungsgebiete umfassen. In der Presse wird viel von Produkten für Neugeborene oder für Kinderchirurgie oder -kardiologie, wie Baby-Stents gesprochen. Da ist die Lage besonders dramatisch, weil sich natürlich jeder vorstellen kann, wie furchtbar es ist, wenn man ein Kind mit einem angeborenen Herzfehler hat, das nicht mehr mit diesen modernen und fortschrittlichen Behandlungsmethoden versorgt werden kann. Aber es betrifft nicht nur diese Nischen mit wenigen Fallzahlen, sondern auch die breiten Anwendungen, angefangen bei chirurgischen Instrumenten, Implantaten, Endoskopen oder auch Hilfsmitteln, wie zum Beispiel Sitz- und Aufstehbetten.
Hat sich die Lage seit Ihrer Umfrage im April inzwischen gebessert?
Es gibt inzwischen 32 Benannte Stellen, was aber immer noch zu wenig ist. Was sich gebessert hat, ist, dass unsere Forderungen und Lösungsvorschläge sehr viel ernster genommen werden. Denn das Problem ist inzwischen auch bei Ärzten angekommen. Gerade Ärzte, die mit langjährigen Bestandsprodukten im Nischenbereich arbeiten, leiden schon heute unter Abkündigungen. Zudem erfahren sie von immer weiteren klassischen Bestandsprodukten, die ihnen fehlen werden. Die Sorge wächst extrem. Aber auf politischer Ebene hat man das lange ausgesessen. Zu Beginn wurden die Bedenken in diese Richtung gerne als Industriepolitik abgetan. Als würden wir nur Alarm schlagen, um die Margen der Unternehmen zu erhöhen. Inzwischen hat man verstanden, dass die Industrie die Auswirkungen richtig eingeschätzt hat. Wir haben es mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun. Wir setzen uns mit voller Kraft für ein funktionierendes System und eine gesicherte Versorgung mit sicheren, langjährigen und innovativen Medizinprodukten ein.
Sie kritisieren auch, dass die MDR die Innovationskraft von Unternehmen beschneidet. Wieso das?
Erstens sind in nahezu allen innovativen Unternehmen über die letzten Jahre alle Ingenieure nur damit beschäftigt, bestehende Produkte, die es seit Jahren gibt, sozusagen „neu“ zu entwickeln. Denn letztendlich ist die erforderliche Neuzulassung nach MDR vom Arbeitsaufwand so, als ob ich das Produkt noch mal von vorne entwickle. Die haben also kaum Zeit, Neues voranzutreiben. Zweitens: Weil die Anforderungen an die EU-Zulassung jetzt viel höher sind, länger dauern als in anderen Märkten und die Kosten immens gestiegen sind, haben sich viele Unternehmen dazu entschlossen, Neuentwicklungen nicht wie früher als erstes in der EU zuzulassen, sondern in den USA oder in Asien. Erst wenn sich das Produkt dort schon ein bisschen amortisiert hat, kommt die Zulassung verzögert in Europa – vorausgesetzt sie rechnet sich hier.
Was könnte das für die regionale Wirtschaft bedeuten?
Die Firmenlandschaft wird sich definitiv verändern. Es werden Unternehmen als offizielle Hersteller verschwinden. Einige davon werden sich in eine neue Rolle einfinden, müssen Teile ihrer Strategie und ihres Daseins verändern. Viele werden als „verlängerte Werkbank“ dienen. Das ist gerade für die vielen Familienunternehmen in der Region, die ihr Geschäft mit Herzblut und Motivation seit Generationen betreiben, kein einfacher Schritt. Andere, besonders sehr kleine Unternehmen, werden ganz verschwinden, weil sie den Aufwand einfach nicht mehr stemmen können. Andere tun sich zusammen. In der Summe wird es weniger Unternehmen geben. Und sie werden anders aufgestellt sein.
Was ist also die Lösung: MDR wieder abschaffen?
Nein, die MDR wird bleiben. Zahlreiche Unternehmen haben in den letzten Jahren viel Energie, Geld und Fleiß – bis hin zu burn outs – in die Erfüllung der MDR gesteckt. Dieser unglaubliche Kraftakt soll nun auch mit den entsprechenden MDR-Zertifikaten belohnt werden. Das Ziel der verbesserten Patientensicherheit ist richtig. Die MDR muss aber zwingend an den Stellen praxistauglicher werden, wo die Versorgung sonst nicht mehr sichergestellt werden kann, also bei Bestands- und Nischenprodukten.
Und sie muss zugänglich für alle Hersteller sein. Es darf nicht passieren, dass wir gut aufgestellte innovative Unternehmen und ihre Produkte verlieren, nur weil sie keine Benannte Stelle bekommen. Oder weil sie zu klein sind, um sich das leisten zu können. Das System MDR muss daher evaluiert und richtig ausgerichtet werden. Es braucht mehr Pragmatismus, aber auch mehr Zeit!
Text: db
Bild (oben): Adobe Stock/ alfa27
Die Medizinprodukteverordnung
Die neue Europäische Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, kurz MDR) ist die politische Reaktion auf den Skandal um mangelhafte Brustimplantate im Jahr 2012. Seit Mai 2021 ist die Verordnung die verbindliche Vorgabe für Hersteller von Medizinprodukten in der EU und in Deutschland, um Medizinprodukte in Verkehr zu bringen. Um für mehr Patientensicherheit zu sorgen, schreibt das Gesetz wesentlich detailliertere Anforderungen an Prozesse und bessere Kontrolle der technischen Dokumentation vor als bislang, sowie die Verpflichtung zur Nachbeobachtung von Medizinprodukten über den gesamten Produktlebenszyklus durch die Hersteller. Es gibt keinen Bestandsschutz: Laut MDR müssen alle bereits genehmigten Medizinprodukte erneut nach den neuen Anforderungen geprüft und zertifiziert werden. Das heißt, Hersteller müssen sich über so genannte „Benannte Stellen“ – das sind staatlich autorisierte Stellen – bescheinigen lassen, dass ihre Produkte den Sicherheitsanforderungen Genüge tun. Spätestens am 26. Mai 2024 laufen die noch gültigen Zertifikate aus. Die Benannten Stellen haben allerdings mit Anwendungsdatum der MDR ihre vormals gültigen Autorisierungen verloren und müssen selbst ein komplexes und langwieriges neues Benennungsverfahren durchlaufen, um auch nach neuer Rechtslage tätig werden zu dürfen. Deswegen sind im Moment nur wenige Benannte Stellen verfügbar.