Amerika schottet sich ab, China ist China und die deutsche Wirtschaft braucht dringend neue Absatzmärkte und Freunde: Kein Wunder, dass Indien mit seiner robust wachsenden Volkswirtschaft und einer ausgeprägten Willkommenskultur für Investoren immer stärker in den Fokus von Wirtschaft und Politik gerät…
Wenn Birgit Hakenjos an Indien denkt, dann lächelt sie kurz und wird dann sehr energisch: „Indien dürfen wir einfach nicht verschlafen. Es bietet sich hier eine historische Chance für deutsche Unternehmen – und wir Mittelständler wissen alle, dass wir neue Märkte erschließen müssen“, sagt die Präsidentin der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg, die vor ein paar Tagen von einer sehr inspirierenden Delegationsreise mit der baden-württembergischen Landeswirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut zurückgekehrt ist. Gerade mit Blick auf Trumps neo-merkantilistisch-protektionistische Wirtschaftspolitik, auf weltweit zunehmende Handelskonflikte, die Rezession in Deutschland und die Besonderheiten der chinesischen Staatswirtschaft sagt Hakenjos: „Aus meiner Sicht ist Indien einer der interessantesten Märkte der Welt. Dieses Land boomt und wir sind eingeladen, an dieser Entwicklung mitzuarbeiten!“
Exportvolumen bisher: zwölf Euro pro Kopf
Ganz ähnlich sieht das Ministerin Hoffmeister-Kraut: „Indien ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Welt, sondern gehört auch zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften. Für Baden-Württemberg ist Indien ein hochinteressanter Markt, denn Indien treibt aktuell Reformen sowie die Industrialisierung massiv voran. Der Zeitpunkt für eine Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit könnte daher kaum besser sein. Die schiere Größe des indischen Binnenmarktes und die handelspolitische Hub-Funktion bieten zudem große Möglichkeiten, Produktions- und Lieferketten zu diversifizieren und dadurch Abhängigkeiten von einzelnen Märkten zu verringern.“
Die fünftgrößte Volkswirtschaft ist noch nicht in den Top Ten der deutschen Handelspartner vertreten – ganz im Gegenteil. Mit einem Handelsvolumen von rund 30 Milliarden Euro liegt der Riesenstaat nur etwa bei einem Neuntel des deutsch-chinesischen Handelsvolumens und hinter Dänemark auf Platz 23 – noch deutlicher wird der Nachholbedarf, wenn man das Volumen der deutschen Exporte auf die indische Bevölkerung umlegt und so auf gerade zwölf Euro pro Kopf kommt.
34 Kilometer neue Straßen – täglich…
Was Birgit Hakenjos als chancenwitternde Unternehmerin aus dem Schwarzwald so ins Schwärmen bringt, ist schnell umrissen: Indien ist eine stabile Demokratie, weist eine junge Bevölkerung auf und ein hohes Bildungsniveau. Und Indien stellt einen Markt mit rund
1,4 Milliarden Menschen dar – die Auto fahren wollen, die Straßen und Brücken bauen, die Häuser errichten und neue Fabriken eröffnen, für die es Maschinen und Anlagen braucht, Elektrotechnik, Roboter und vieles mehr. „Die Inder bauen jeden Tag 34 Kilometer Straßen“, sagt Hakenjos. „Aber noch viel beeindruckender finde ich die Zahl der Studenten an Indiens Hochschulen: aktuell sind es 150 Millionen!“
Digital auf dem neuesten Stand
Mit einer so gut gebildeten Bevölkerung wundert es nicht, dass viele indische Fertigungsstätten den Vergleich mit deutschen Fabriken nicht mehr scheuen müssen. „Wir haben die Werkshallen von Bharat Forge besichtigt“, erzählt Hakenjos und schmunzelt beim Gedanken an den Roboterhund im hypermodernen Besprechungsraum. „Geschäftsführer wie Baba Kaljany setzen konsequent auf modernste Technik. Die Fertigung war komplett automatisiert, in Sachen Digitalisierung auf dem absolut neuesten Stand.“
Und doch hat der indische Markt noch einen großen Bedarf. Daher war jetzt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei Indiens Ministerpräsident Modi. Im Gepäck: ziemlich konkrete Pläne für ein Freihandelsabkommen mit Indien, das noch in diesem Jahr abgeschlossen werden soll (mehr dazu im Interview ab Seite 10). „Wenn dieser Pakt geschlossen wird, dann werden wir alle profitieren“, sagt Hakenjos. „Dabei ist Indien für die Hersteller von Maschinen und Anlagen, aber auch für Automobilzulieferer und weite Teile der Metall- und Elektroindustrie superspannend.“
Marquardt: von Mumbai nach Pune
Eines dieser Unternehmen, das sich von den glänzenden Zukunftsaussichten Indiens hat anlocken lassen, ist die Firma Marquardt aus Rietheim-Weilheim. Rund 10 200 Mitarbeiter beschäftigt das 1925 gegründete Unternehmen an derzeit 22 Standorten. Im Dezember 2022 hat der Mechatronik-Spezialist ein Forschungs- und Entwicklungszentrum in der Region Pune, 150 Kilometer südöstlich von Mumbai eröffnet.
Rund 450 Experten arbeiteten dort seither an neuen Lösungen für die E-Mobilität – und seit März verfügt Marquardt in Pune auch über einen Produktionsstandort. 20 000 Quadratmeter voller hochmoderner Montagelinien und einer eigenen Elektronikfertigung inmitten von Indiens großem Automotive-Cluster – denn hier in Pune sind fast alle wichtigen Automarken der Welt vertreten. Indiens Silicon Valley in Sachen Automobilbau, wenn man so will.
Mit der Fertigungsstätte ersetzt das Familienunternehmen seine bisherige Produktion in Mumbai, baut seine Kapazitäten deutlich aus und stärkt seine Wettbewerbsfähigkeit in einem dynamischen Markt. 20 Millionen Euro hat Marquardt investiert und kündigte an, in den nächsten fünf Jahren rund 300 zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
Marquardts Vorstandsvorsitzender Björn Twiehaus sagte dazu: „Indien ist für Marquardt ein bedeutender Wachstumsmarkt mit großem Potenzial. Wir arbeiten hier eng mit führenden Fahrzeugherstellern zusammen und nutzen die Innovationskraft und das Fachwissen unseres indischen Teams. In Talegaon schreiben wir unsere Erfolgsgeschichte in Indien fort und stärken unsere Position als führender Anbieter mechatronischer Systeme für die Mobilität der Zukunft.“
Vor Ort entschieden: Lauda in Pune
„I fell in love with India“ hat Lauda-Geschäftsführer Gunther Wobser nach der Rückkehr aus Indien seinen Followern bei Linkedin geschrieben – und macht nun ebenfalls Nägel mit Köpfen. „Ich habe noch vor Ort entschieden, das wir unser nächstes Werk in der Region Pune eröffnen“, sagt der Geschäftsführer des Temperierlösungs-Unternehmens aus Königshofen.
Indische Fachkräfte für Deutschland
Die Delegation von Ministerin Hoffmeister-Kraut hat aber nicht nur Investitionen deutscher Unternehmen in Indien angeschoben – ein zweiter Schwerpunkt des Programms in Pune und Mumbai lag auf dem Thema Fachkräfte. Wichtig dabei: die im Februar 2024 zwischen Baden-Württemberg und dem indischen Staat Maharashtra unterzeichnete Absichtserklärung zur Zusammenarbeit in der Fachkräftemigration und der Berufsbildung. Am Goethe-Institut in Pune hat sich die Wirtschaftsministerin über dort durchgeführte und vom Staat Maharashtra finanzierte Deutschkurse informiert. Inder bereiten sich dort auf eine Berufstätigkeit in Deutschland vor – und so werden Kraftfahrer und Krankenschwestern ausgebildet, Pfleger und Köche, die in Deutschland gebraucht werden.
Juristische Besonderheiten
Der Freiburger Gesellschaftsrechtsanwalt Gerhard Manz betreut als Indien-Kenner eine ganze Reihe von Unternehmen mit Werken und Vertriebsniederlassungen in Indien. „Alle sind sehr zufrieden mit ihren indischen Niederlassungen“, sagt Manz. Die Reform des indischen Gesellschaftsrechts vor etwa zehn Jahren habe sich positiv bemerkbar gemacht und es ist nicht mehr so, dass man für eine Unternehmensgründung zwingend einen indischen Joint-Venture-Partner braucht. „Diese Joint Ventures haben sich häufig als problematisch erwiesen, meist nach fünf bis sieben Jahren“, sagt Manz. Kaum lief das Werk richtig rund, hatten die deutschen Partner das Gefühl, nicht mehr gebraucht und damit auch nicht mehr gewollt zu werden. Aus diesen Erfahrungen heraus rät Manz von Joint-Venture-Konstruktionen eher ab.
Zehn Jahre vor Gericht?
Indiens Zivil-, Handels- und Gesellschaftsrecht ist nach britischem Vorbild aufgebaut und eigentlich okay. Die indischen Arbeitsgesetze dagegen sind aktuell in mehrfacher Hinsicht stark fragmentiert: Einerseits können die Bundes- wie die Landesregierungen in diesem Bereich Gesetze erlassen. Andererseits gibt es unterschiedliche Regeln für produzierende und nicht produzierende Einheiten, für Arbeiter und sogenannte Erwerbstätige und dann ist auch noch die Anzahl der Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Seit 2014 versucht die indische Regierung, die indischen Arbeitsvorschriften zu vereinheitlichen, indem sie die 44 Bundesgesetze in national geltende Gesetzesbücher zusammenführt. Vier neue Gesetzbücher wurden bereits verabschiedet.
Indiens Gerichte sind chronisch überlastet, weshalb Verfahren sich in der Regel ewig hinziehen. „Zehn Jahre sind keine Seltenheit“, sagt Manz. Daher rät er dazu, die Anwendbarkeit von Schiedsverfahren zu vereinbaren, basierend auf UN-Recht nach der New Yorker Konvention. Handels- und gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungen lassen sich so schnell und effizient klären
Dennoch empfiehlt es sich, für die Gründung einer Niederlassung und das Aufsetzen der Arbeitsverträge eine Rechtsanwaltskanzlei vor Ort mit einzubeziehen – und die deutsch-indische Handelskammer. „Diese Außenhandelskammer ist außergewöhnlich groß und gut aufgestellt“, sagt Manz. „Diesem Netzwerk beizutreten, ist auf jeden Fall eine gute Idee.“ Schnell merke man dann auch, dass man von Mumbai oder Pune aus nicht ganz Indien abdecken könne. Manz: „Das Land ist riesig. Wenn man es richtig erschließen will, sollte man langfristig auch in Chennai, Kalkutta und Bangalore aktiv werden.“
Das aber ist sicher erst der zweite oder dritte Schritt. Wer mit dem Gedanken spielt, Produkte in Indien anzubieten oder sich dort zu engagieren, auf der Website der deutsch-indischen Handelskammer gibt es Informationen und die Kontakte vieler guter Ansprechpartner: indien.ahk.de. Ulf Tietge