Es ist über ein Jahr vergangen, seit diese Pandemie unser Land erreicht – und seine Agenda übernommen hat. Ein Jahr, das sich wie kein anderes zuvor zusammensetzt aus vielen kleinen Zeitabschnitten, in denen wir mit unzähligen, immer wieder veränderten, angepassten, nachgeführten Maßnahmen versucht haben, dem Infektionsgeschehen Herr zu werden. Lockdowns wurden angeordnet, Ausgangssperren verfügt, Masken- und Abstandsregeln implementiert, Hygienekonzepte entwickelt, Grenzkontrollen eingeführt und wieder aufgehoben, Hilfsprogramme geschneidert, das Insolvenzrecht geändert. Schulen wurden geschlossen, geöffnet und wieder geschlossen, von den Universitäten redet schon gar keiner mehr, ganze Branchen wurden vom Wirtschaftsverkehr abgeschnitten.
Die tagesaktuelle Inzidenz hat das politische Kommando übernommen über Öffnen und Schließen, über Click & Collect, Click & Meet, Straßenverkauf und Außengastronomie, die jeweiligen Schwellenwerte haben mittlerweile eine Halbwertszeit von wenigen Wochen. Juristen streiten, wer überhaupt befugt sei, das alles zu steuern, Uneinsichtige protestieren, ohne so genau zu wissen, gegen wen oder was. Aber die allermeisten haben bislang alles mitgemacht und mitgetragen, aus Solidarität und in der Hoffnung, das vielzitierte Ende des Tunnels sei in Sicht. Doch das ändert sich gerade.
Als wäre das alles nicht unübersichtlich genug, sorgen eine kontroverse demokratische Debatte, der wissenschaftliche Streit der Epidemiologen, die föderale Vielfalt und vielleicht auch schon der beginnende Wahlkampf dafür, dass nicht einmal zu einem beliebigen Zeitpunkt überall dasselbe gilt – im Gegenteil. Länder, Landkreise und Städte experimentieren mit multiplen Modellen und Lösungen, Notbremsen werden installiert, aber nicht gezogen, Ausgangssperren diskutiert, aber nicht verhängt. An den Außengrenzen gelten die verschiedensten Regeln, die Impfkampagne stottert, die Impfbereitschaft leidet, das Vertrauen der Menschen auch. Mit überkomplexen Regelwerken, die von ihren Adressaten kaum mehr gelesen, geschweige denn verstanden werden, droht die Politik, den Kontakt zu den Menschen zu verlieren, zumindest zu Teilen auch den zur Wirtschaft. Das ist fatal, denn am Verhalten der Menschen hängt jeder Erfolg.
Nach Mallorca statt auf die Mainau
Immer mehr Unternehmerinnen und Unternehmer fragen sich – und sie fragen ihre IHK – wie denn das alles zusammenpasse. Warum man auf Mallorca Urlaub machen dürfe, aber auf der Insel Mainau nicht einmal spazieren gehen. Warum ein Münchener in Konstanz frei einkaufen dürfe, der Nachbar aus Kreuzlingen aber für zehn Tage in Quarantäne geschickt werden solle, wenn er auch nur einen via Click & Collect erworbenen Artikel abholen wolle. Warum die Menschen am Rheinufer wie die Vögel auf der Stange säßen, die dahinter liegende Terrasse aber für die Außengastronomie gesperrt sei. Warum sich die Kunden in den Discountern drängten, wo immer mehr Non-Food-Artikel angeboten würden, während dem Textileinzelhandel noch nicht einmal Click & Meet erlaubt werde. Warum der Buchhandel plötzlich nicht mehr
zur Grundversorgung zähle, Blumenhandel aber schon. Warum die Freizeit- und Veranstaltungsbranche ohne jede Perspektive gelassen werde. Warum ein und derselbe Impfstoff erst nicht und dann nur noch an Ältere verabreicht werden dürfe, dann wieder an alle. Warum ein negatives Testergebnis nicht als „Eintrittskarte“ für ein normaleres Leben genutzt werde. Warum die IHK nicht lauter werde, die verzweifelte Situation vieler ihrer Mitglieder nicht deutlicher in die Politik trage. Und vor allem: wie lange das noch so gehen solle.
Ausnahmezustand auch für die IHK
Auch für die IHK und ihr Haupt- und Ehrenamt bedeutet diese Pandemie seit einem Jahr den Ausnahmezustand. Und auch sie fragen sich immer öfter, ob wir alle zusammen noch auf dem richtigen Weg sind. Oder ob wir nicht immer mehr und immer wieder eine Medizin verabreichen, die gar nicht wirkt, oder zumindest mit Nebenwirkungen verbunden ist, die jeden Nutzen in Frage stellen.
Mehr und mehr zeigt sich jedenfalls die Erkenntnis: Diese Pandemie ist mit einer bloßen Aneinanderreihung von Lockdowns nicht zu gewinnen. Es braucht eine intelligentere Strategie. Und es zeichnet sich auch ab, wie diese Strategie aussehen könnte, ja müsste. Es sind drei Stränge, die es zu verfolgen gilt – eine Impfstrategie, eine Teststrategie und eine Öffnungsstrategie. Alle drei müssen so miteinander verzahnt werden, dass die eine die andere trägt.
Wenn und sobald die Knappheit bei den Impfstoffen überwunden ist, und das steht unmittelbar bevor, müssen alle Kräfte auf die rasche Verimpfung vorbereitet sein und gebündelt werden. Jeder Tag zählt! Konkret heißt das, dass neben die Impfzentren die Impfung beim Hausarzt und neben diese die Impfung in den Betrieben durch Betriebsärzte treten muss; zugleich muss die Impfbürokratie auf ein notwendiges Minimum heruntergefahren werden. Es kann nicht sein, dass andernorts im Minutentakt im Drive-in geimpft wird, während wir erst noch viele Seiten Formulare durcharbeiten.
Mutige Teststrategie bis zum Impferfolg
Bis das Impfen den erwarteten Erfolg bringt, muss eine mutige, eine aggressive und flächendeckende Teststrategie die Teilnahme möglichst vieler Menschen am normalen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ermöglichen. Die Unternehmen sind dafür offen, solche Testungen, gegebenenfalls auch Impfungen, anzubieten. Auch hier darf Bürokratie nicht die Bremse sein. Getestete und bereits Geimpfte müssen ihre grundrechtlichen Freiheiten zurückerhalten, die Unternehmen, vom Einzelhandel bis zum Fitnessstudio, komplementär und vorsichtig geöffnet werden. Nur so kann ein Massensterben vieler kleiner und mittlerer Unternehmen und ein langsamer Tod unserer Innenstädte abgewendet werden. Schließlich müssen Geschäfte und Gaststätten vorsichtig geöffnet werden.
Es geht in dieser Situation, die für uns alle neu und ohne Vorbild ist, nicht darum, Schuldzuweisungen anzustellen. Und auch nicht darum, den handelnden Entscheidungsträgern den besten Willen abzusprechen. Trial and Error sind in dieser Zeit keine Schande. Wohl aber geht es darum, den Mut zu einer Kurskorrektur aufzubringen, wo und wann immer die dafür notwendige Erkenntnis gegeben ist. Nicht mehr und nicht weniger.
Text: mx
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