Wie steht es um die Versorgungssicherheit im Land? Bei der Sommervollversammlung der IHK waren die aktuelle Gaskrise und die steigenden Energiepreise Thema Nummer eins. Die Vertreter der regionalen Wirtschaft stellen vier Forderungen an die Politik.
Die Unternehmen, die schon in den Bereichen Personal (Fachkräftemangel), Material (Lieferketten), Finanzierung (Zinsentwicklung) und Arbeitskosten (Inflation, anstehende Lohnrunden) extrem gefordert sind, blicken mit Sorge auf den kommenden Winter, wenn es um die Versorgung mit Energie geht. Viele sehen ihre Geschäftstätigkeit in Gefahr, andere fürchten gar, energieintensive Produktionsprozesse ganz einstellen zu müssen. Die Unsicherheit, wen es im Falle einer Mangellage in welchem Umfang trifft, zehrt an den Nerven.
Sorge vor Dominoeffekten
„Die Unternehmen sind sich bewusst, was es für sie, für die Wirtschaft insgesamt, aber auch für die politische und soziale Stabilität unserer Gesellschaft bedeutet, wenn die Energiesicherheit nicht mehr gewährleistet ist. Das wurde in unserer Diskussion sehr deutlich“, sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Claudius Marx. „Das größte Schadenspotenzial liegt dabei noch nicht einmal in der Beeinträchtigung des einzelnen Unternehmens, sondern in einem Dominostein-Effekt der Unterbrechung von Produktionsketten. Die Gasversorgung besitzt in vielen industriellen Bereichen eine erhebliche ‚Systemrelevanz‘. Fällt etwa die Produktion in der Grundstoffe verarbeitenden Chemie aus, sind nicht nur die davon unmittelbar betroffenen Unternehmen lahmgelegt, es brechen vielmehr ganze Wertschöpfungs- und Produktionsketten zusammen, die auf die jeweiligen Vorprodukte angewiesen sind – mit der Folge, dass am Ende auch Medizinprodukte, Lebensmittel oder der Healthcare Bereich betroffen sind – weil Vorprodukte ausbleiben oder auch nur, weil die notwendige Verpackung fehlt. Damit kommen auch Unternehmen in Gefahr, die selbst gar nicht von einem Gas-Stopp betroffen wären, von den dann gravierenden Folgen für den Arbeitsmarkt gar nicht zu reden.“
Gemeinsame Kraftanstrengung
„Angesichts der angespannten Lage müssen wir gemeinsam alles dafür tun, für den Winter genug Gas zu haben. Das bedeutet, dass wir alle mehr Energie sparen müssen, die Wirtschaft genauso wie die Bürgerinnen und Bürger“, so Thomas Conrady, Präsident der IHK. „Mittlerweile herrscht in dieser Frage ein breiter gesellschaftlicher Konsens. Nicht nur die Politik hat die europarechtlich vorgegebene Priorisierung zugunsten der Privathaushalte als problematisch erkannt, auch die Bürgerinnen und Bürger sprechen sich immer öfter für eine faire Lastenverteilung aus. Sie wissen, was passiert, wenn die Unternehmen nicht mehr die Energie bekommen, die sie brauchen. Dann müssten die Mitarbeitenden in Kurzarbeit geschickt oder gar Beschäftigung abgebaut werden. Diesem Szenario gegenüber kann die Temperatur in unseren Badezimmern keinen absoluten Vorrang genießen.“ Energiesparen wird das Thema der kommenden Monate sein, glaubt auch Claudius Marx. „Viele Unternehmen haben bereits als Reaktion auf die enorm anziehenden Preise Maßnahmen zur Senkung ihres Energieverbrauchs ergriffen, an weiteren Einsparmöglichkeiten wird gearbeitet. Die Unternehmen arbeiten mit Hochdruck an Konzepten, die Energiesparpotenziale heben und höhere Energieeffizienz und/oder die Umstellung auf andere Energiequellen vorsehen. Der private Sektor, der fast ein Drittel unseres Gasverbrauches ausmacht, muss da gleichziehen.“
Vor diesem Hintergrund richten die Mitglieder der IHK-Vollversammlung vier Forderungen an die Politik:
- Belastungsmoratorium
Angesichts der multiplen Herausforderungen, denen sich alle Unternehmen gegenüber sehen, bedarf es jetzt eines kriegsbedingten, befristeten Belastungsmoratoriums: Keine neuen, zusätzlichen Belastungen gleich welcher Art, solange die Krise nicht überwunden ist. - Alle Energiequellen nutzen
Solange unsere Energieversorgung akut bedroht ist, darf keine technisch mögliche, realistische und ökonomisch sinnvolle Energiequelle a priori ausgeschlossen werden. Also nicht Windkraft oder Photovoltaik oder Geothermie oder Kohleverstromung oder Fracking oder verlängerte Atomkraftnutzung, sondern „und, und, und“. Gleiches gilt für Sparpotenziale: Alle müssen geprüft und gehoben werden. - Solidarität ohne Ausnahmen
Für den Fall einer akuten Gasmangellage bedarf es einer kollektiven, gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, die Sparmaßnahmen ebenso einschließt ,wie den ganz oder teilweisen Verzicht auf eine Belieferung. In diesem Szenario darf keine der großen Verbrauchergruppen – Stromerzeugung/Industrie/Wärme in Privathaushalten – von vornherein und gänzlich ausgenommen werden. Vielmehr muss jede und jeder seinen/ihren Beitrag leisten. Rechtsnormen, die dem entgegenstehen, müssen angepasst werden. - Proaktive Transparenz
Unternehmen müssen wissen, was auf sie zukommt. Wie auch immer Spar- oder Abschaltpläne aussehen, eine vorzeitige, proaktive Einbeziehung möglicher Betroffener ist Voraussetzung für eine Minimierung der möglichen betriebs- und volkswirtschaftlichen Schäden. Die einschlägigen Kriterien der Bundesnetzagentur für eine Priorisierung lassen sich nicht ohne die Expertise der betroffenen Unternehmen anwenden. Und es darf nicht sein, dass Unternehmen nur wenige Tage vor einer hoheitlichen Zuteilung informiert werden.
Text: hw/mx
Bilder: Adobe Stock – New Africa (oben)/Achim Mende