Das landesweite Projekt „Integration durch Ausbildung – Perspektiven für Zugewanderte“ wird in der IHK Hochrhein-Bodensee von Hina Raza und Sven Ness betreut. Ihre Aufgaben sind vielfältig, weil die Biografien der Menschen, die ihre Unterstützung benötigen, es auch sind. Ihr Einsatzgebiet haben sie aufgeteilt.
Zuständig für die Landkreise Konstanz und Waldshut ist seit Anfang des Jahres Hina Raza, Sven Ness steht seit bereits 2018 als Ansprechpartner im Kreis Lörrach parat. „Das Erste, was wir wissen müssen, wenn uns ein Fall zugetragen wird, ist der Aufenthaltsstatus der betreffenden Person. Also die Frage, ob er oder sie überhaupt eine Ausbildung beginnen darf“, erläutert Hina Raza. Dann müsse die Situation analysiert werden. „Das kann manchmal recht aufwändig sein, weil nicht immer alle Dokumente vollständig vorliegen, Daten nicht immer stimmen müssen, viele unterschiedliche Herausforderungen auf dem Weg zu meistern sind und sprachliche Hürden das alles nicht erleichtern“, ergänzt Sven Ness.
Hinzu komme, dass viele Menschen mit Fluchthintergrund erst einmal Vertrauen in staatliche Stellen und Behörden fassen müssen: „Wir kennen weder ihre vielleicht traumatischen Erlebnisse auf der Flucht, noch die genauen Hintergründe, warum sie ihre Heimat verlassen haben.“ Daher begreifen sich Hina Raza, die vor ihrer Tätigkeit bei der IHK unter anderem für Bundesbehörden gedolmetscht hat, und Sven Ness tatsächlich als „Kümmerer“. Sie unterstützen Zugewanderte, die eine Ausbildung anstreben, auf der Meta-Ebene – also über die Grenzen der verschiedenen behördlichen Institutionen hinweg, ohne in deren Zuständigkeitsbereich einzugreifen. „Wir reden, wir vermitteln, wir suchen Lösungen“, beschreibt es Hina Raza. Ziel sei es, alle an einen Tisch zu bringen, um dann einen gemeinsamen Weg zu finden. „Gehen müssen die Geflüchteten den Weg allerdings allein, wir bereiten ihn nur möglichst sicher vor und stehen ihnen sowie den Betrieben jederzeit bei Fragen zur Verfügung.“ Wie die Arbeit aussehen kann und zu welchen positiven Entwicklungen das führt, zeigen zwei Beispiele aus der Praxis:
Boniface Mbenge Wara startet im Einzelhandel durch
Im Januar 2017 beantragt Boniface Mbenge Wara nach seiner Ankunft in Deutschland Asyl. Der junge Mann aus Kamerun hat seiner Heimat den Rücken gekehrt, weil er sich nicht mehr sicher fühlte. Gewalttätige Auseinandersetzung enzwischen politischen Gruppierungen sowie Kämpfe um die Herrschaft auf der Straße lassen den damals 20-Jährigen, der sein Abitur (Baccalauréat Lettre Philosophique) bestanden hat, keine Zukunft für sich erkennen.
Obwohl er fließend französisch spricht, entscheidet er sich für Deutschland, weil er hier bessere Perspektiven sieht. Sobald sich die Möglichkeit ergibt, nimmt er an Deutschkursen teil. Er will jede Chance nutzen. Sein Ehrgeiz bleibt nicht unbeachtet, und seine ehrenamtliche Deutschlehrerin unterstützt ihn.
Boniface Mbenge Wara würde gern arbeiten, eine Ausbildung absolvieren. „Ich mag den Umgang mit Menschen, ich wollte gern in der Gastronomie im Service anfangen“, sagt der heute 26-Jährige. Das gelingt: Er beginnt ein Vorschaltjahr vor der eigentlichen Ausbildung und pendelt täglich von der Asylunterkunft in Efringen-Kirchen nach Kandern.
Doch dann gibt es Differenzen mit dem Arbeitgeber über Kleinigkeiten, die prekäre Lebenssituation in der Unterkunft, die sprachlichen Herausforderungen generell und durch den hiesigen Dialekt sowie sein ungeklärter Aufenthaltsstatus setzen ihm zu.
Der anvisierte Ausbildungsplatz geht verloren, der hoffnungsvolle Kameruner gerät in eine Abwärtsspirale, sieht keinen Ausweg mehr. „Es war auch psychisch für mich eine sehr schwierige Zeit“, sagt Boniface Mbenge Wara mit ernstem Blick. Doch dann huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Denn er hat sich aus dieser Krise herausgearbeitet. Mit der Hilfe von Sven Ness.
Mit den Basics begonnen
Der Kümmerer nimmt sich des Kameruners an, erkennt dessen Talent, die damit verbundenen Chancen, allerdings auch die Defizite. „Wir haben bei vielen Dingen ganz von vorn angefangen, um ihm eine Ausbildungsstelle zu verschaffen“, blickt Sven Ness zurück. Von der passenden Kleidung für ein Bewerbungsgespräch über das Verhalten gegenüber potenziellen Arbeitgebern bis hin zu konkreten Trainings war alles dabei. Boniface Mbenge Wara strahlt. „Er hat mir wirklich viel gezeigt und mir die Augen geöffnet“, sagt er mit einem warmen Lächeln. Und so kommt es, dass der Kameruner eine zweijährige Ausbildungsstelle zum Verkäufer im Lebensmitteleinzelhandel antritt und 2021 – keine vier Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland – erfolgreich abschließt.
Die Arbeit im Team, der Umgang mit Kunden – Boniface Mbenge Wara hat Freude an seinem Beruf und will diesen ausbauen. Dafür muss er allerdings den Arbeitgeber wechseln, weil sein Ausbildungsbetrieb keine zusätzlichen Kapazitäten hat. Mit Unterstützung von Sven Ness gelingt auch das, so dass er sich zum Kaufmann im Einzelhandel weiterbilden kann.
Und das nächste Ziel hat er schon im Auge: den IHK-Wirtschaftsfachwirt. Damit wäre er beruflich am Ziel. Privat ist er es in Weil am Rhein mit Partnerin und kleiner Tochter bereits.
Mohammad Madaratys Weg zum Fachinformatiker für Systemintegration
Als 26-Jähriger flieht Mohammad Madaraty Anfang 2015 vor dem Bürgerkrieg in Syrien über die Türkei nach Deutschland. Hier will er nicht nur in Frieden leben, sondern sich eine Existenz aufbauen. Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft jobbt er bereits und sucht nach einer Lehrstelle im IT- oder EDV-Bereich. In seiner Heimat hatte er nach der Schulzeit Computer zusammengeschraubt und repariert. Als Autodidakt kümmerte er sich dann um PCs und Offline-Systeme, da es in Syrien kein funktionierendes Internet gab.
2016 startet er mit der Einstiegsqualifikation, absolviert den Sprachkurs erfolgreich und erhält einen Ausbildungsplatz zum Fachinformatiker für Systemintegration. Doch ein Jahr später scheint der Traum geplatzt. Der einzige Ausbilder wechselt die Arbeitsstelle, für den jungen Syrer fühlt sich keiner mehr zuständig. Anstatt an der IT-Infrastruktur zu arbeiten, muss er Handlangerjobs übernehmen, Ware ausfahren oder im Lager helfen. „Das habe ich auch gern gemacht, aber irgendwann wollte ich wieder meine eigentliche Ausbildung weitermachen“, sagt er im Nachgang über die kritische Zeit und lächelt. Seine Freundin rät ihm dann, sich an die Kümmerer in der IHK zu wenden.
Sein Wille blieb ungebrochen
„Mohammad Madaraty war mein erster ‚Fall‘“, erinnert sich Sven Ness – und es war gleich ein herausfordernder. Zwar hatte man sich auf einen Aufhebungsvertrag geeinigt, doch damit rückte die Wunschausbildung in weite Ferne. Denn bei der Agentur für Arbeit riet man ihm anfangs davon ab, sie weiterzuverfolgen, er solle lieber etwas anderes versuchen. „‚Du kannst das nicht‘, haben sie zu mir gesagt“, ärgert er sich heute noch. Doch Sven Ness intervenierte, auch seine Partnerin und seine spätere Schwiegermutter unterstützten ihn bei den Gesprächen, so dass Mohammad Madaraty mit Hilfe des Arbeitsamts über einen lokalen Bildungsträger in Lörrach doch seine Chance erhält.
Weil dieser nach drei Monaten wegen Unregelmäßigkeiten seinen Betrieb einstellen muss, heißt es für den Auszubildenden, dass er täglich von Schopfheim nach Freiburg pendeln muss, um die Ausbildung erfolgreich abzuschließen: „Das war nicht einfach, aber er wollte es schaffen“, sagt Sven Ness. Auch hier hatte die IHK mitgewirkt, um Lösungen zu finden. Unter anderem musste auch ein Unternehmen gefunden werden, das ihm den praktischen Teil ermöglicht.
Im Januar 2021 erhält Mohammad Madaraty sein Abschlusszeugnis, und das Unternehmen, in dem er seine Ausbildung praktisch absolvieren durfte, übernimmt ihn. Bei Office Komplett Computer Service in Wehr ist er mittlerweile mit diversen Projekten beschäftigt, betreut Kunden selbstständig und ist wichtiger Teil des Teams, freut sich der geschäftsführende Gesellschafter, Rolf Gallmann. Den nächsten Bildungsschritt hat der mittlerweile glücklich verheiratete Vater einer Tochter bereits im Visier: IHK-Projektmanager.
mrk