Die Schweizer stimmten am 27. September gegen die Begrenzungsinitiative „Für eine maßvolle Zuwanderung“. „Die Auswirkungen für unsere Region wären kaum absehbar gewesen“, sagt Claudius Marx. Eine Bewertung des IHK-Hauptgeschäftsführers.

Die Schweiz wird den Zuzug von EU-Ausländern nicht begrenzen. Mit eindrucksvollen 62 Prozent sprach sich die Mehrheit der Eidgenossen in einer Volksabstimmung am 27. September gegen die Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) aus, das Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit im Verhandlungswege aufzuheben, notfalls einseitig zu kündigen (siehe auch Seite 55). Nur 38 Prozent befürworteten die sogenannte Begrenzungsinitiative. Das Ergebnis sorgt auch auf deutscher Seite für Erleichterung, denn die Auswirkungen für unsere Region am Bodensee und Hochrhein wären in ihrem Umfang kaum absehbar gewesen.
Warum: Die Schweiz und die EU haben viele Jahre verhandelt, um unser wirtschaftliches Miteinander, das heißt, den wechselseitigen Marktzugang über die Außengrenze des europäischen Binnenmarktes hinweg, zu regeln. Die ersten sieben Abkommen dazu, „Bilaterale I“ genannt, umfassen neben der Personenfreizügigkeit den Abbau technischer Handelshemmnisse, das öffentliche Beschaffungswesen, die Forschung, den Luft- und den Landverkehr sowie die Landwirtschaft. Die Abkommen sind untereinander so verknüpft, dass nicht eines davon gekündigt werden kann, ohne dass zugleich das gesamte Paket gesprengt wird. Mit dieser „Guillotineklausel“ stand also das gesamte Vertragswerk auf dem Spiel – mehr noch, auch Folgeabkommen, die die Personenfreizügigkeit voraussetzen, wie etwa das Schengen-Abkommen, wären infrage gestellt worden. Es handelte sich bei diesem Referendum also nicht um eine der üblichen „So oder doch lieber so“-Abstimmungen, sondern um eine „Alles oder nichts“-Entscheidung. Der ganze Status quo der Beziehungen der Schweiz zur EU stand auf dem Spiel – von den laufenden Verhandlungen zu einem institutionellen Rahmenabkommen CH/EU, mit dem der legislative Nachvollzug der Entwicklung des europäischen Rechts in der Schweiz dynamisiert werden soll, ganz zu schweigen.
Die Initiative der SVP kaschierte diesen Zusammenhang zwar verbal mit dem Auftrag, die Schweiz solle das Freizügigkeitsabkommen „im Verhandlungswege“ mit der EU auflösen und nur, wenn das nicht gelinge, einseitig aufkündigen. Es war aber schlechterdings nicht vorstellbar, wie sich die EU darauf einlassen könnte – die Freizügigkeit gehört zum absoluten rechtlichen Kern, ja zur DNA des Binnenmarktes. Damit wollte die Initiative in Wahrheit das gesamte Fundament angreifen, auf dem der Zugang der Schweiz zum europäischen Binnenmarkt beruht, oder nahm dies zumindest in Kauf.

Dabei ist – und spätestens hier kommt unsere Grenzregion ins Spiel – der Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt der Union keine Einbahnstraße. Beide Seiten profitieren nachhaltig davon, und folglich hätte es auch auf beiden Seiten nur Verlierer gegeben, wäre der erreichte Status quo ersatzlos entfallen. Dazu wäre es zwar auch im Worst Case eines erfolgreichen Referendums wohl nicht gekommen, aber die Beziehungen der Schweiz zur EU hätten für diesen Fall von Grund auf neu geordnet werden müssen. Die Wirtschaft in unserer Region hätte vor einer enormen Rechts-, Planungs- und Investitionsunsicherheit gestanden. Mindestens ebenso von großer Unsicherheit betroffen wären die vielen Grenzgänger gewesen, die jeden Tag in die Schweiz pendeln.
Was für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Rheines auf dem Spiel stand, zeigen schon die Zahlen: Zum einen ist die EU der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz: 54 Prozent der Exporte gehen in den Binnenmarkt, der Löwenanteil dabei (18 Prozent) nach Deutschland (2019). Zum anderen ist die Schweiz ein wichtiger Handelspartner Deutschlands, die Eidgenossen beziehen über ein Viertel ihrer Importe aus dem Nachbarland. Allein aus Baden-Württemberg gehen jährlich Exporte im Wert von über 15 Milliarden Euro in die Schweiz. Gemessen am Umsatz belegt die Schweiz damit als Außenhandelspartner Baden-Württembergs den vierten Platz, gleich nach den USA, China und Frankreich. Bei den Importen ist es sogar der erste Platz, noch vor China. Wobei die Handelsbilanz in absoluten Zahlen Jahr für Jahr nahezu ausgeglichen ist.
Entsprechend hoch lag das Schadenspotenzial, das sich hätte realisieren können, wären die rechtlichen Grundlagen für diesen Austausch vollkommen unkoordiniert und gleichsam als „unerwünschte Nebenfolge“ des aufgekündigten Freizügigkeitsabkommens zerstört worden. Bereits der zurückliegende Lockdown und die damit einhergegangene, letztlich kurzzeitige Grenzschließung haben schmerzhaft gezeigt, was es heißt, wenn ein etabliertes und funktionierendes länderübergreifendes Miteinander schlagartig unterbrochen wird.
Alle Unternehmen und Branchen, die wirtschaftlich mit der Schweiz verbunden sind, hätten die Aufkündigung der Verträge massiv zu spüren bekommen. Was macht ein Unternehmen mit Standorten in Deutschland und der Schweiz? Wie wären Lieferketten betroffen? Was wären die Folgen für den Warentransport und -transit? Was bedeutete der Wegfall der gegenseitigen Anerkennung technischer Standards? Was würde aus dem Schengen-Abkommen, und wie wären Pendler betroffen? Und vor allem: Welche rechtlichen Grundlagen sollten anstelle der weggefallenen gelten? Alle diese Fragen standen letztlich unbeantwortet im Raum.
Die Annahme der Initiatoren, die EU werde es aus eigenem Interesse nicht so weit kommen lassen, also die isolierte Aufkündigung des Freizügigkeitsabkommens „schlucken“, um die wirtschaftlichen Beziehungen im Übrigen zu retten, war mehr als ein Spiel mit dem Feuer. Brüssel hätte einen solchen Alleingang der Schweiz nicht unbeantwortet lassen können und dürfen. Und dass die notorische Erwartung, eine vermeintlich zahnlose EU werde schon aus eigenem Interesse nachgeben, auch trügen kann, lässt sich aktuell an den Brexit-Verhandlungen verfolgen, die direkt auf einen harten Bruch zulaufen.
Allzu große Sorgen sollten sich indessen auch die mit ihrem Referendum Unterlegenen nicht machen. Zwar trifft es zu, dass die Schweiz in den vergangenen Jahren eine erhebliche Zuwanderung erfahren hat. Und mit einem Ausländeranteil von etwa einem Viertel der Bevölkerung liegt die Schweiz auch weit über dem europäischen Durchschnitt – mit allen Herausforderungen, die damit für eine funktionierende Gesellschaft verbunden sind. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Zuwanderung ganz überwiegend in die erfolgreiche Wirtschaft der Schweiz erfolgt ist, wo die neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger dringlich gebraucht wurden (und werden!), um einen Arbeitskräftebedarf zu decken, den die Schweiz aus ihrer eigenen Bevölkerung heraus, aus ihren eigenen Schulen und Universitäten, unbestritten nicht befriedigen könnte. In den Unternehmen und Institutionen, den Krankenhäusern und Altenheimen und an vielen anderen Orten aber tragen die Zugewanderten substanziell zu einem Wohlstand bei, den letztlich alle, auch die Schweizer selbst, genießen.
Text: Claudius Marx
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