Die Rahmenbedingungen für das Auslandsgeschäft deutscher Unternehmen verändern sich grundlegend durch die Coronapandemie, sowie USA-China-Konflikt und die fortschreitende digitale und ökologische Transformation. Welche Rolle Indien für das Gesamtgeschäft deutscher Unternehmen einnehmen kann und sollte, diskutierte Gabriele Borchard vom Kompetenzzentrum Indien der IHK Rhein-Neckar mit Bernhard Steinrücke, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer (AHK Indien). Die AHK begleitet deutsche Unternehmen auch in Coronazeiten vor Ort in Indien.
Gabriele Borchard: Die weltweite Coronakrise hat einseitige Abhängigkeiten Indiens in der Lieferkette, insbesondere in China, zu Tage befördert. Ein Grenzkonflikt mit dem Nachbarn China hat zu dem Verbot von chinesischen Apps und zu Verzögerungen bei der Abwicklung von Waren aus China geführt. Wie abhängig ist Indien von China?
Bernhard Steinrücke: Das bilaterale Handelsvolumen zwischen Indien und China lag 2019 bei rund 82 Milliarden US-Dollar, wobei Indien schon seit Jahren ein sehr großes Außenhandelsbilanzdefizit mit China aufweist. 14 Prozent der indischen Importe kommen aus China, wobei Indien in vielen Bereichen extrem abhängig von China ist – und das schon lange vor der Coronakrise. Zwei Bereiche sind hier besonders herausragend: die Pharma- und die Elektronikindustrie. Indien gilt als Apotheke der Welt – rund 80 Prozent der pharmazeutischen Rohmaterialien und auch 70 Prozent der fertigen Medikamente stammen aus China. Indien erfährt hier also die gleiche Abhängigkeit von China wie auch die europäischen Länder. Bei Elektronikprodukten stammen 60 bis 70 Prozent aus China und Hongkong. Die Abhängigkeit geht sogar in Bereiche, in denen man das gar nicht so vermutet. Zum Beispiel in den Verteidigungsbereich: Viele der Produkte, die die indische Armee braucht und kauft, kommen aus China. Ein Beispiel: Metallteile in schusssicheren Westen kommen aus China.
Eine dauerhafte Lösung im USA-China-Konflikt scheint in weiter Ferne. Es dürften sich drei Wirtschaftsräume herausbilden: ein China-zentrierter, ein US-zentrierter und ein EU-zentrierter Wirtschaftsraum. Indien will unabhängiger von China werden und im Handel mit China Alternativen finden. Kann das gelingen und wenn ja, wie? Welche Auswirkungen sehen Sie dabei?
Ein großes Dilemma in Indien ist das Zusammentreffen der indischen Händlermentalität mit der indischen Konsumentenrealität. Die indische Händlermentalität ist: billig einkaufen und mit kleiner Marge billig weiterverkaufen. Die indische Konsumentenrealität heißt: billig kaufen. Die Inder haben vorwiegend in China eingekauft, und so wuchs die Abhängigkeit von China immer mehr. Mit Corona wurden zunächst die Lieferketten in China gestört, das heißt aus China kam nichts. Und in Indien wurde aufgrund von Covid-19 weniger konsumiert, sodass der Druck durch die Käufer wegfiel und der Lieferant nicht liefern konnte. Premier Modi nutzt diese Situation und will nun zeigen, dass es auch ohne China geht. Eine aktuelle Studie belegt, dass gut 300 Produkte drei Viertel der Importe aus China ausmachen. Jetzt analysiert man, welche dieser Produkte aus anderen Ländern bezogen werden können und welche man auch vor Ort selbst produzieren kann. Der Druck der indischen Regierung ist immens, viele Produkte, die aus China importiert wurden, vor Ort in Indien zu produzieren. Auf der anderen Seite werden auch kritische Stimmen laut. Deutsche Unternehmen in Indien sind nicht nur begeistert von Modis neuer Politik „Make in India for the world“. Viele globale Unternehmen haben eine weltweit fein austarierte Lieferkette. So hat der VW-Chef in Indien sich sehr klar gegen die Politik der indischen Regierung gewandt: Er vertritt die Meinung, wenn man aus Indien exportieren wolle, müsse man in Kauf nehmen, aus anderen Ländern, gemeint ist China, zu importieren.
Apple will durch Risikostreuung in seiner Supply-Chain auch weiterhin den US-Markt beliefern können. Das US-Unternehmen hat deshalb seinen taiwanesischen Zulieferer Foxconn dazu bewogen, einen Teil seiner Fertigung aus der Volksrepublik China nach Indien zu verlagern. In welchen anderen Industrien und in welchem Ausmaß finden solche Fertigungsverlagerungen mittlerweile statt?
Foxconn ist keine Verlagerung per se aus China nach Indien, sondern der großen Nachfrage in Indien geschuldet. Apple will seit Jahren groß in Indien einsteigen, sie haben Milliarden-Investitionen angekündigt. Da ist nie richtig etwas draus geworden. Jetzt erhöhte in der Tat Indien, aber auch Apple den Druck, in Indien zu produzieren. Auch Samsung hat sein größtes Handywerk weltweit vor gut einem Jahr in Indien gebaut, ebenfalls wegen der großen Binnennachfrage. Das Problem bei Handys, wie bei vielen anderen Elektronikprodukten, ist, dass es eine sehr kleinteilige Fertigungskette hat, bei der sehr viele Teile aus allen möglichen Ländern verbaut werden. Ein sehr hoher Anteil dieser Kleinteile kommt aus China. Indien steht nun vor der Frage, ob dort nur Assembly gemacht werden soll oder ob man in der Wertschöpfungskette viel tiefergehend einzelne Produkte herstellt. Hier ist China um Jahre voraus, denn China produziert für die ganze Welt. Auf jeden Fall lohnt sich eine genaue Analyse der Lieferkette für einzelne Produkte, denn auch in China kommt nicht alles aus China. Vieles stammt aus Taiwan, einiges auch aus Japan oder Korea und wird in China zusammengesetzt. Richtig ist, dass China die Fertigungstiefe mittlerweile perfektioniert hat. Und hier steckt die Herausforderung, denn das erreicht man nicht über Nacht.
Indien scheint verstärkt den Schulterschluss mit den USA zu suchen und sich diesem Wirtschaftsraum anzunähern. Wie gut ist der Zugang zum US-Markt für Waren- und Dienstleistungsanbieter aus Indien aktuell tatsächlich?
Die USA sind nach China und den Vereinigten Arabischen Emiraten der drittgrößte Handelspartner Indiens. Hier sprechen wir auch über ein Volumen von rund 88 Milliarden US-Dollar, wobei Indien mit den USA einen Handelsbilanzüberschuss hat. Indien exportiert in die USA vor allem Textilien und Dienstleistungen. Insbesondere Software wird in Indien für amerikanische Unternehmen entwickelt. Sehr viele Inder leben in den USA und sind dort im IT-Bereich tätig. Indien ist der größte Empfänger von Transferleistungen von Auslandsindern, auch aus diesem Grund sind die USA für Indien sehr wichtig. Es gibt auch immer wieder Konflikte mit den USA. Präsident Trump moniert regelmäßig, dass auf eine Harley Davidson bei der Einfuhr nach Indien ein Zoll von 100 Prozent anfällt. Die Motorräder, die Indien in die USA exportiert, haben einen Einfuhrzoll von zehn Prozent, wobei die Anzahl der exportieren Motorräder sehr gering ist. Trump erschwert aktuell die Vergabe von Arbeitsvisa, mit denen indische Softwareingenieure in die USA einreisen und arbeiten können. Insofern ist auch das Verhältnis Indien-USA nicht konfliktfrei. Auf der anderen Seite ist auch die EU ein sehr wichtiger Partner für Indien. Am 15. Juli fand der EU-Indien-Summit statt. Da wurden zahlreiche Vereinbarungen getroffen, unter anderem auch im Bereich Handel, der weiter ausgebaut werden soll.
Der Automobilsektor in Indien schwächelt massiv, und das schon vor Corona, eine Erholung ist nicht in Sicht. Davon sind auch deutsche Automotive-Unternehmen stark betroffen. Welche Geschäftschancen bieten sich deutschen Unternehmen in welchen Kundenbranchen und Marktsegmenten – aktuell und perspektivisch nach Corona?
Das größte Problem in Indien ist momentan die mangelnde Nachfrage. Die Menschen tun sich schwer in solch schwierigen Zeiten mit neuen Investitionen. Davon ist die Automobilbranche natürlich besonders betroffen. Motorräder und Traktoren gehen aktuell ganz gut, weil sie vor allem auf dem Land gekauft werden. Der Monsun ist diese Saison recht gut ausgefallen, deshalb geht es der Bevölkerung auf dem Land relativ gut. Aber wenn man sich den Pkw-Bereich anguckt, dann ist es in der Tat noch sehr mühsam, und das wird auch noch eine ganze Weile dauern. Aufgrund von Corona liegt ein Schwerpunkt der Regierung für Investitionsförderung natürlich im Pharma- und Medizintechnikbereich. Modis Forderung ist, dass im Land der Nachfrage auch ein großer Teil der Wertschöpfung erfolgen soll. Premierminister Modi hat im Rahmen der 125. Jahreshauptversammlung des indischen Industrieverbandes CII angekündigt, in bestimmten Produktbereichen den Produktionsauf- und -ausbau vor Ort zu unterstützen. Unter anderem in den Bereichen Möbel, Schuhe, Klimaanlagen und Pharmaprodukte. Diese Konsumgüter sollen verstärkt in Indien gefertigt werden, und indische Unternehmen werden mit erheblichen Zuschüssen unterstützt, um die Produktion aufzubauen. Hier steckt ein enormes Potenzial für deutsche Maschinen- und Anlagenbauer: Die indischen Produzenten werden die Fertigungsmaschinen zukaufen müssen.
Welche Verbesserung der Rahmenbedingungen wird die Regierung Modi aufgrund der wirtschaftlichen Krise in Indien kurz- und mittelfristig vornehmen, auch um ausländische Investoren im Land zu halten beziehungsweise neue anzulocken – Stichworte: Arbeitsrecht, Grunderwerb, Bürokratie?
Das Credo von Premierminister Modi „Red carpet instead of red tape“ ist zwar gut und schön, aber die Realität muss dann doch differenzierter betrachtet werden. Indien ist zwar im Ranking „Ease of doing Business“ der Weltbank von Platz 134 auf Platz 63 innerhalb von fünf Jahren hochgeschossen. Um wirklich mit anderen Ländern konkurrieren zu können, muss man aber mindestens auf Platz 25 sein – davon ist Indien noch sehr weit entfernt. Vor allem, wenn man mal genauer schaut, in welchen Bereichen Indien besser geworden ist und in welchen noch Luft nach oben ist: Die Bereiche „Schutz von Kleinaktionären“ oder „Einführung des Insolvenzrechts“ sind nicht die wichtigsten für ausländische Investoren. Aber in wirklich relevanten Bereichen, zum Beispiel „Durchsetzung von Forderungen oder von Verträgen“, liegt Indien immer noch sehr weit hinten. Hier muss der Druck weiter aufrechterhalten werden. Zumal das Weltbankranking des „Ease of doing Business“ nur für Delhi und Mumbai gilt und gar nicht für ganz Indien. Im Moment versuchen einzelne Bundesstaaten zum Beispiel beim Thema Arbeitsrecht aktiv zu werden. Das heißt, sie haben wegen Corona das geltende Arbeitsrecht temporär ausgesetzt. Die indische Regierung und auch die einzelnen Bundesstaaten bemühen sich in der Tat sehr um Neuinvestitionen und werben mit vereinfachten, unbürokratischen Bedingungen beim Landerwerb. Aber die Realität sieht natürlich anders aus.
Interview: Gabriele Borchard
Bilder: IHK-Rhein-Neckar-Matthias-Kruse; AHK Indien; Sagittarius Pro