
Achern. Gewisse Dinge brauchen ihre Zeit zum Reifen, manche auch ein bisschen mehr davon. Bei Martin Geiger waren es 16 Jahre, bis er das, was ihn seit 2005 begleitet, einordnen und wirklich Schlüsse daraus ziehen konnte. „Vielleicht waren es auch der runde Geburtstag vor zwei Jahren oder die viele Zeit zum Reflektieren, die ich durch die Pandemie plötzlich hatte, dass da schließlich etwas in mir in Gang gesetzt wurde“, schätzt der 52-Jährige.
Fast zwei Jahre lang waren die Vortragsbühnen dieser Welt pandemiebedingt geschlossen. Für einen leidenschaftlichen Redner und Managementtrainer wie Martin Geiger eine echte Strafe. Onlinevorträge sind nur ein fader Ersatz, findet er, deshalb hat er weitgehend darauf verzichtet. Seit mehr als 20 Jahren ist der gebürtige Nürnberger als wortgewandter Experte für Zeitführung – „Das Wort Zeitmanagement mag ich nicht.“ – bekannt. In Vorträgen, Seminaren, individuellen Coachings und Büchern zeigt er Menschen, wie sie mehr aus ihrer Zeit machen, wie sie produktiver und effizienter werden.
Der Hang zu diesem Thema stammt noch aus seinem früheren beruflichen Leben als selbstständiger Finanzdienstleister, für den der Arbeitstag 12, 13, 14 Stunden hatte und doch nicht lang genug war, um das verdiente Geld überhaupt auszugeben. Als sich 2001 die Geburt seines Sohnes ankündigte, stand für Martin Geiger die Frage im Raum: „Wie und wann finde ich die Zeit, um meinen Nachwuchs aufwachsen zu sehen?“
Geiger machte Nägel mit Köpfen, verkaufte sein Unternehmen und behielt das Produktivitätsthema, in das er sich in all den Jahren im eigenen Interesse eingearbeitet hatte.
Dann kam der 10. Juni 2005 – und brachte die Diagnose Multiple Sklerose (MS). Entschleunigung qua Attest. Martin Geiger ist geschockt, besonders die erste Reha mit vielen Patienten mit schweren Verläufen setzt ihm zu. Trotzdem sei die Diagnose jahrzehntelang „nicht der Life-Changing-Moment“, wie sie es vielleicht für manch anderen ist, sagt er. Der damals Mittdreißiger beginnt, mehr Sport zu treiben – „Ich bin heute fitter, als ich es mit 30 war“ –, sich für MS-Patienten zu engagieren und erweitert darüber hinaus seine Effizienztrainer- und Rednerkarriere um Life Coaching per Telefon.
„Ich habe das große Glück, dass die Krankheit bislang einen sehr günstigen Verlauf nimmt und alle Zeichen darauf deuten, dass das noch eine Weile so bleibt“, berichtet Geiger nicht ohne Demut. „Ich habe ihr in all den Jahren nie sehr viel Raum gegeben.“ Und sie auch nicht an die große Glocke gehängt, „weil einige Kunden anfangs mal sehr irritiert darauf reagiert haben. Und ich wollte keinen Stempel oder mich mit Vorbehalten auseinandersetzen.“
Dass er jetzt, gut 16 Jahre nach der Diagnose, dennoch einen anderen Weg einschlägt, resultiert aus einem „Erkenntnisprozess, der zwar mit reichlich Verzögerung eingesetzt hat, aber meine Haltung zu dem, was ich lehre, verändert hat“. Zwar sei es ihm nie besonders wichtig gewesen, was die Leute denken, aber „inzwischen habe ich verstanden, dass nur dieser Hintergrund mich wirklich authentisch macht für die Botschaft, die mir am Herzen liegt.“
Und die wäre? „Zeit ist ein sehr kostbares Gut. Man sollte sie bestmöglich nutzen. Deshalb will ich Menschen helfen, ihr volles Potenzial zu entfalten“, erklärt er und möchte nicht, dass das zu esoterisch rüberkommt. „Die Sache ist doch die: Seit Jahren bringe ich meinen Kunden bei, ihre Zeit effizienter zu nutzen. Aber wenn sie die gewonnenen Tage oder Wochen nicht für eine Herzenssache einsetzen, was haben sie dann gewonnen? Ich möchte, dass die Menschen ihren Mission finden, die eine Sache, für die sie brennen und die ihr ganzes Potenzial zum Vorschein bringt.“ Das könne für einen Unternehmer die Firma sein, die er voller Inbrunst führt, andere seien mit voller Power Eltern, und der nächste gehe im Theaterspielen auf. Es gehe ihm darum, dass niemand mehr halbherzig bei etwas bleibt, was ihn nicht erfüllt. „Meine Botschaft ist, das Leben nicht aufzuschieben.“ Die simple Gleichung: Wer heute an dem arbeitet, was ihm wichtig ist, zieht gleich Befriedigung daraus und muss nicht auf einen Glückszustand in der Zukunft warten. Geiger ist sicher, dass neun von zehn Menschen nicht wissen, was ihre Berufung ist.
Und seine? Was ist sein eigenes „Warum“? Früher sei sein Motto gewesen „Ein gutes Pferd springt nicht höher, als es muss“. Dieses Credo habe sich lange bewährt. Allerdings erfahre man so nie, wie hoch man springen könne. Die Krankheit habe ihn zum Weiterdenken gebracht: „Ich möchte mit meinem Schaffen eine Million Menschen erreichen, um sie dabei zu unterstützen, ihr volles Potenzial zu entwickeln“, sagt der leidenschaftliche 1. FC Nürnberg-Fan und räumt ein, dass das eine stolze Zahl sei. Mit Büchern und Vorträgen allein wird das nicht zu schaffen sein, Geiger braucht Multiplikatoren – und ist dabei, sie auszubilden: Die Coronazeit hat er gemeinsam mit Partnern aus seinem Netzwerk genutzt, um die „Coach2Call-Academy“ zu entwickeln: eine Onlineversion seiner bisherigen Präsenzweiterbildungen, die berufsbegleitend Life Coaches ausbildet. Smarter Nebeneffekt: „Die Coach2Call-Academy ist nicht an mich als Person gebunden und kann mich überdauern. Man weiß nie. Ich bin jetzt 52. Wenn ich mein Ziel bis 60 erreicht hätte, wäre das prima. Dafür möchte ich 5.000 Coaches ausbilden.“ Etwas mehr als 200 Coaches hat er bislang zertifiziert. Seine Vision ist demnach noch eine ehrgeizige Herausforderung. Aber effizient Ziele zu erreichen, ist einem Produktivitätsexperten ja nicht fremd.
uh