Raphael Gielgen arbeitet als Trendscout für den Designmöbelhersteller Vitra. Der 49-Jährige reist rund um den Globus und erforscht die sich verändernde Welt der Arbeit.

Weil am Rhein. So sieht also ein Trendscout aus: dunkelblaue Hose und Weste, weiße Turnschuhe, angegraute Schläfen. Raphael Gielgen, 49, ist „Trendscout Future of Works“ beim Designmöbelhersteller Vitra. Er sucht nach Trends rund um die sich verändernde Welt der Arbeit. In der einen Hand trägt er den kleinen Eames-Elefanten, der ihn derzeit auf allen Reisen begleitet, unter dem anderen Arm eine große Papierrolle – sein Panorama der Arbeitswelt, das er gerade in einem Kundengespräch auf seine vollen drei Meter Länge ausgerollt hat. Nachher hält er noch einen Vortrag in Lörrach über „Die Kunst der Erneuerung“. Wegen der Digitalisierung müssen die Unternehmen sich neu erfinden. Das Thema geht alle an, vor allem die klassischen, älteren Betriebe. Die sind Gielgens Zielgruppe. „Ich geb’ denen Anleitung und Orientierung.“
Wie findet Gielgen Trends? Erstens, indem er sucht. Er liest viel. Wenn er von einem Thema, einem Schlagwort hört – aktuell zum Beispiel „Wellbeing“, das die elementaren Bedürfnisse von Menschen bedient und das die großen Internetanbieter in den Fokus gerückt haben, um ihren Mitarbeitern den bestmöglichen Arbeitsort zu bieten –, spürt er dem nach, vor allem elektronisch. „Google ist mein Betriebssystem“, sagt Gielgen. Nach dem Suchen kommt das Begreifen, das heißt er geht zu den Protagonisten des Themas und schaut sich dort um. Gielgen ist Kölner, seine rheinländische Art mit einem „außerordentlichen Maß an Neugier und Empathie“ hilft ihm, Türen zu öffnen. „Ich hab keine Berührungsängste, ich geh’ überall hin“, sagt er. Und bisher ist er auch überall reingekommen. Er nutzt Kontakte, verbindet Menschen, Netzwerke sind ihm wichtig, Co-Creation und sogenannte Hackathons liefern ihm Antworten über das eigene Unternehmen hinaus.
Dass er Trendscout wurde, sei eigentlich ein Unfall gewesen, erzählt Gielgen beim doppelten Espresso im Café des „VitraHauses“ auf dem Vitra-Campus in Weil am Rhein. Er hatte einen Vertrag im Vertrieb von Vitra, musste aber aufgrund eines Wettbewerbsverbots seines vorherigen Arbeitgebers ein Jahr warten, ehe er die Stelle antrat. In diesem Interimsjahr lockte ihn ein Freund zu Art Aqua, einem Hersteller von Pflanzenwänden. Gielgen, der „keine Ahnung von Pflanzen“ hatte, wurde dort Innovationsmanager.
Seine Aufgabe war der unverbrauchte externe Blick aufs Unternehmen. „Wenn das Unternehmen ein Planet wär, war ich der Meteor, der eine ordentliche Delle reinhaut.“ Er hinterfragte alles. „Ich bin denen gehörig auf den Zeiger gegangen. Ich wusste ja: Ich geh in einem Jahr wieder.“ Das sei eine unglaubliche Freiheit gewesen. Und zugleich die Erkenntnis: Zurück in den Vertrieb wollte er nicht. Er suchte das Gespräch mit der Vitra-Geschäftsleitung, sagte, dass er für den vereinbarten Job nicht zur Verfügung stehe. Seine jetzige Stelle gab es bis dahin nicht bei Vitra. „Aber es liegt in der Natur des Unternehmens, Dinge zu hinterfragen und Neues zu entdecken“, findet Gielgen. Es sei neugierig, habe den Mut, andere Wege zu gehen. Gielgen flog nach New York und bastelte mit dem dortigen Chef innerhalb von drei Tagen den neuen Job. Das war vor vier Jahren. Seither tourt er durch die Welt. Nur 60 Tage im Jahr verbringt er bei Vitra vor Ort, die restliche Zeit ist er rund um den Globus unterwegs.
Gielgens Werdegang begann mit der mittleren Reife („fürs Gymnasium war ich zu dumm“) und einer Schreinerlehre. Das Tischlern selbst war nicht sein großes Talent, aber er stellte fest, dass er gut mit Kunden umgehen, gut verkaufen kann. Also machte er eine zweite Lehre in einem Einrichtungshaus und entdeckte dort sein Händchen für Möbel und Innenausbau. Über zwanzig Jahre arbeitete er für unterschiedliche Arbeitgeber rund ums Einrichten von Büros und neuen Orten der Arbeit. Ein Wendepunkt in seinem Leben heißt Bertrand Piccard. Den Schweizer Psychiater und Abenteurer hörte er 2010 bei einer Konferenz in München die Geschichte seiner Erdumrundungen per Ballon und Solarflugzeug erzählen. „Ich habe noch nie einen Mann mit so einer Aura erlebt“, sagt Gielgen. Ihn beeindruckte vor allem Piccards Pioniergeist. Dass es gar nicht um die neuen Ideen geht, sondern um den Kampf gegen das Alte. Den Status quo zu hinterfragen, bewusst andere Perspektiven einzunehmen. „Der Typ hat mich komplett rebootet“, erzählt Gielgen. Er fing an, die Welt mit anderen Augen zu entdecken, Muster zu erkennen, Kulissen zu verstehen. Dies lebt er nun bei Vitra aus. Auf seiner jüngsten Reise führte Gielgen eine Gruppe deutscher Unternehmer durch die Hotspots der amerikanischen Wirtschaft, ließ sie eintauchen in das „kulturelle Framework“ von Unternehmen wie Airbnb, Adobe, Slack, Etsy und vielen anderen, die Arbeit und Arbeitsorte so ganz anders organisieren. Dabei erlebten seine Mitreisenden ihren Piccard-Moment. „Das verändert die nachhaltig“, sagt Gielgen, betont aber auch, dass es nicht darum gehe, alles eins zu eins zu kopieren, sondern den Horizont zu erweitern, Potenziale zu entdecken.
Und wie sieht sein eigener Arbeitsplatz aus? Bei Vitra hat er keinen festen – da sitzt er an irgendeinem großen Tisch, den er sich flexibel mit der Bürogemeinschaft teilt –, daheim dafür ein „wunderbares Studio“ mit großer Bücherwand und vollem Schreibtisch – „wie eine Hobelbank: Da sieht man, dass drauf gearbeitet wurde“. Das Arbeitszimmer gehört zu einem alten Hof nahe Regensburg. Dort wohnt Gielgen mit seiner Frau, eine Bayerin, die er im Skiurlaub kennengelernt hat. Kinder haben die beiden nicht, dafür Haflinger, Ponys, Hunde und Katzen. Das „Outback“, wie Gielgen sein Zuhause nennt, hilft ihm, normal zu bleiben. Es ist der Gegenpol zu seiner aufregenden Arbeit. „Ich würde durchdrehen, wenn ich in einer Stadt leben würde.“ Bei ihm ist es nachts still und dunkel.
kat