Sie soll mehr Sicherheit für Patienten schaffen, ruiniert stattdessen eine Branche, schafft Dramen in Krankenhäusern und Praxen und wirft so manches medizinische Therapieniveau um Jahrzehnte zurück: Die Europäische Medizinprodukteverordnung ist weit mehr als ein Behandlungsfehler.
Wenn eine Schraube kürzer ist als der Papierstapel hoch, den es für ihren Verkauf braucht – dann stimmt was nicht. Dieser Meinung ist jedenfalls Gerhard Hipp. Vielleicht, weil der Geschäftsführer von Anton Hipp in diesem Bereich schon so viel erlebt hat. Wie so viele Verantwortliche in der Medizintechnik. Die besagten Schrauben werden in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie verwendet. Bis zu 30 Stück für eine OP. Jede ist begleitet von einer Gebrauchsanweisung in 18 Sprachen. „Früher war die Bedienungsanleitung für die von uns hergestellten Instrumente und Implantate mal eine Seite lang, heute sind es sechs“, berichtet Hipp. Und fragt sich: „Was wird dadurch sicherer? Was wird dadurch besser? Ist das nachhaltig?
Sicherer und besser sollte die Medizintechnik werden, als das Europäische Parlament die Medical Device Regulation (MDR) überarbeitete. Mit ein Auslöser dafür: Es gab Implantate zur Brustvergrößerung, die nicht mit medizinischem Silikon, sondern mit technischem hergestellt waren. Der französische Hersteller Poly Implant Prothèse hatte billiges Industriesilikon für seine Implantate verwendet. „Das war kriminelle Energie“, resümiert Gerhard Hipp. Doch diese mit überbordenden Normen und Regulatorik eindämmen zu wollen, löst wohl nicht nur bei ihm Kopfschütteln aus.
Am Puls der Branche
An der Stelle könnte Julia Steckeler nicken. Als Geschäftsführerin von Medical Mountains in Tuttlingen leistet sie mit ihrer Organisation Lobbyarbeit für die Branche, vernetzt Akteure der Medizintechnik, unterstützt mit Wissenstransfer und befindet sich im Dialog mit der Politik. Im Juli dieses Jahres publizierte man 31 Seiten „Änderungsvorschläge für mehr Planungssicherheit, angemessenen Aufwand und weniger Kosten bei der Umsetzung der MDR“. In Tuttlingen, wo mehr als 400 Medizintechnik-Unternehmen beheimatet sind, ist das elfköpfige Medical-Mountains-Team schließlich am Puls der Branche. Deshalb befürchtet Julia Steckeler auch: „Wenn die MDR so bleibt, wird es hier bald keine 400 Medizintechnik-Unternehmen mehr geben.“
Viel zu tun im Qualitätsmanagement
Es sind die hohen Kosten, lange Verfahrensdauern, Bürokratie und absurde Prozesse, die nicht nur nerven, sondern schwerwiegende Folgen haben. Nämlich dann, wenn man nicht das tut, was Gerhard Hipp für sein Unternehmen mit 30 Mitarbeitern und drei Millionen Euro Umsatz tun musste: Die halbe Qualitätsmanagement-Stelle auf 2,5 Stellen erweitern und noch einen externen Berater hinzuziehen, um Produkte zu rezertifizieren, die es seit mehr als 30 Jahren gibt.
Zum Beispiel eine Schraube für die Kinderchirurgie, die angewendet wird, um Fußfehlstellungen zu heilen. „Wir überlegen, derartige Produkte künftig aus unserem Sortiment zu nehmen. Der Aufwand für die Rezertifizierung ist zu groß“, erklärt Hipp. Für die Kinder bedeutet das: Unter Umständen muss dann wieder konservativ oder mit komplizierten Operationsmethoden behandelt werden. Wie vor 30 Jahren. Und so wirkt die MDR sich nicht nur auf die Hersteller negativ aus, sondern katapultiert Kliniken aus ihrer Routine und bringt Patienten aufgrund schlechterer Versorgung in die Bredouille.
Behandlungsmöglichkeiten fallen weg
Wie Anton Hipp spricht auch Karl Storz mit seinen 9.400 Mitarbeitern und 2,17 Milliarden Euro Umsatz von massiven Auswirkungen und dauerhaft gedrosselter Innovationskraft. Wie Martin Leonhard, Leiter Government Affairs, bestätigt, lässt man auch bei Karl Storz einige Produkte auslaufen – zudem können einige vielversprechende neue Produktideen nicht weiterentwickelt werden. Betroffen sind auch hier die häufig zur Kinder- und Neurochirurgie gehörenden Nischenprodukte.
Schon die Ankündigung, dass ein Produkt vom Markt genommen werden sollte, löste eine alarmierende Reaktion bei Neurochirurgen aus, denn es gab keine Alternativen mehr, um Kinder so gut wie möglich zu behandeln. Am Schluss war es laut Martin Leonhard die für ein Familienunternehmen typische ethische Verantwortung, dass man die Entscheidung revidierte: „Das war nur möglich, weil wir als international erfolgreiches und dementsprechend großes Unternehmen diese Nische über andere Bereiche querfinanzieren.“
Weil so etwas nicht immer geht, hat sich Storz entschieden, den Geschäftsbereich Gastroenterologie einzustellen. Damit verschwindet laut Leonhard der weltweit einzige nicht-asiatische Anbieter vom Markt – die von der Politik eigentlich gewünschte Resilienz Europas wird weiter geschwächt. Er fügt hinzu: „In den letzten fünf Jahren haben wir aufgrund der MDR unsere Mitarbeiterzahl im Bereich Regulatory Affairs um satte 190 Prozent erhöht.“
Statt das eigene Team aufzustocken, hat man bei Bacher Medizintechnik in Tuttlingen externe Berater engagiert. Wie Patrick Bacher, selbst Qualitätsmanager im eigenen 35-köpfigen Familienunternehmen, erklärt, ist man die verlängerte Werkbank der Big Player und als kein In-Verkehr-Bringer von der Rezertifizierung von Produkten verschont. Allerdings: „Wir müssen Maschinen validieren, alle qualifizieren und viel Geld für Dinge ausgeben, die nichts bringen.“ Und wenn er sieht, dass Produkte wie ein Spatel früher 15,80 Euro kosteten und nach der Validierung 90 bis 100 Euro, dann sieht Patrick Bacher jetzt schon, wie man sich in Fernost die Hände reibt.
Die MDR soll geändert werden
Julia Steckeler und ihr Team bei Medical Mountains sehen diese vielfältigen Folgen der MDR: „Es gab Unternehmensübernahmen, manche haben sich zusammengeschlossen, wieder andere verabschieden sich vom europäischen Markt. Dies wiederum wird mittelfristig dazu führen, dass auch Forschung und Entwicklung aus Europa abrücken und mit ihnen die klinischen Studien und Prüfungen. Das bedeutet: Die Innovationstätigkeit ist irgendwann einfach weg!“
Dass die Unternehmen noch längst nicht alle mit der MDR-Zertifizierung durch sind, liegt daran, dass die Regulatorik selbst chaotisch organisiert sei, weshalb die Übergangsfristen je nach Risikoklasse bis 2027 verlängert worden ist: „Die Tatsache, dass man nun für eine Nierenschale eine seitenlange klinische Bewertung schreiben muss, lässt tief blicken. Und zwar auf Leute, die zu wenig Praxis-Ahnung haben.“ Dass Unternehmen wie Medical Mountains, der Branchenverband Spectaris (der die 1.470 Medizintechnik-Unternehmen in Deutschland vertritt) oder die DIHK sich für ein Eindämmen des Bürokratie-Hammers MDR einsetzen, führte jetzt laut Julia Steckeler dazu, dass es noch im ersten Quartal 2025 schnelle untergesetzliche Änderungen geben soll, die das System MDR und somit auch die Unternehmen entlasten.
Bestandsprodukte neu bewerten
Diese kommen für Sutter Medizintechnik in Emmendingen einen Tick zu spät. Das 1970 gegründete Familienunternehmen mit 170 Mitarbeitenden hat bereits alle Rezertifizierungen erledigt. „Es war mühselig, aber wir sind jetzt etwas entspannter“, fasst Geschäftsführer Bert Sutter zusammen. Dies gelang nur durch Personalaufstockung und harte Arbeit. „Dabei haben wir unsere Entwickler mit quasi wertlosen Aufgaben beschäftigen müssen, indem sie Bestandsprodukte neu bewerteten“, ärgert sich Sutter. Seine Schlussfolgerung schließt sich der von Gerhard Hipp an: „Nix ist sicherer oder besser geworden!“ Und wenn Sutter die Präambel der MDR liest, fühlt er sich einfach nur verhöhnt: „Man will die Innovationskraft der KMU stärken. Das ist ein Witz!“
Auch sein Unternehmen hat Produkte eingestellt, kauft jetzt manches zur Aufrechterhaltung des Portfolios als Handelsware ein. Und genau wie bei Karl Storz (40 Prozent des Umsatzes in den USA) macht man auch bei Sutter das beste Geschäft außerhalb Europas. Bert Sutter: „Jedes unserer Produkte wird zuerst in Amerika zugelassen. ‚America first‘ eben.“ Doris Geiger
(Bilder: stock.adobe.com/ Gorodenkoff; Karl Storz; Sutter Medizintechnik)