Die KI-Welle so richtig losgetreten hat der Start von Chat GPT im November 2022. Seither ist Künstliche Intelligenz DAS Thema schlechthin. Allerdings hat bislang kaum ein Unternehmer eine konkrete Vorstellung davon, wie KI künftig sein eigenes Geschäft betreffen geschweige denn dafür von Nutzen sein könnte. Doch abwarten! Erste Lösungen beweisen bereits ihre Schlagkraft.
Eines vorweg: Dieser Text ist nicht mit Unterstützung von Chat GPT geschrieben. Das wird zunehmend wichtig zu sagen. Denn Künstliche Intelligenz ist gerade dabei, sich immer tiefer in die redaktionelle Arbeit einzuschleichen. Praktisch alle Medien experimentieren damit. Zeitungen und Nachrichtenportale werten mit KI-Daten aus, personalisieren Inhalte – oder lassen den KI-Kollegen auch schon mal Finanz- und Sportnachrichten schreiben. Radio- und Fernsehsender experimentieren zunehmend mit synthetischen Stimmen. Erste komplett KI-moderierte Streaming-Radiosender sind bereits am Start.
Auch die etablierten Radiosender rüsten hier auf: Beim Lokalsender Baden.fm etwa übernimmt am späten Abend eine KI namens EVA den Dienst. EVA steht für Event-Driven-Voice-Articulation, ein vom Funkhaus Freiburg entwickeltes KI-Servicesystem, das Wetter- und Verkehrsnachrichten in der Nacht und in Randzeiten präsentiert – wenn kein Moderator mehr im Studio ist. In ihrer neuesten Version spricht die 2022 gelaunchte KI mit der Stimme des beliebten Moderators Markus Schäfer. Die Hörer werden darauf hingewiesen. „Für die Hörerinnen und Hörer muss immer klar sein, wenn digital generierte Inhalte gesendet werden“, sagt Baden.fm-Geschäftsführer Christian Noll. Die KI arbeite dabei mit denselben Datenquellen wie die Moderatoren, heißt es, etwa Wetterdienst, ADAC oder Polizei. Unter den klassischen Sendern ist Baden.fm damit vorne dran.
Die Marketing-Welt hat KI bereits verändert
Ein Bereich, in dem sich die Welt durch KI bereits rasant verändert hat, ist das Marketing. Die Villinger Marketingagentur Gruppe Drei etwa nutzt Chat GPT von Anfang an. Die 35 Mitarbeiter sind auch in Midjourney versiert, einer KI zum Erschaffen virtueller Kunst. „Das erwarten wir auch und schulen entsprechend“, sagt Geschäftsführerin Carolin Deberling. Und welchen Nutzen bringt das Ganze? „Als Impulsgeber, wenn man ein kreatives Loch hat“, sagt die Marketingexpertin. „Oder als Hilfsmittel zur Bildbearbeitung und zur Umsetzung neuer Bildideen.“ An der Kundenbeziehung ändere die KI erst einmal nichts, doch „sie erleichtert intern die Arbeit sehr“. Gespannt ist Deberling auf die Weiterentwicklung im Videobereich, etwa mit der KI Sora, die aus Textanweisungen Videos kreiert.
Wie KI praktisch jedem Unternehmen helfen kann, weiß Marcus Rüb. Der Wissenschaftler des Hahn-Schickard-Instituts in Villingen-Schwenningen berät Firmen im Rahmen des bundesweiten „KI-Trainer“-Projekts kostenlos zu individuellen Einsatzmöglichkeiten. So habe man etwa einen Mittelständler mit Hilfe von Chat GPT in die Social-Media-Welt begleitet. „Wir haben automatisiert erste Posts und Bilder erzeugt und damit auch erste Kundenkontakte generiert.“ Der Vorteil: „Unternehmen können so ohne speziell qualifizierte Mitarbeiter ins Social-Media-Marketing einsteigen.“
Das bedeutet der europäische AI Act für Firmen
Im März hat die EU das weltweit erste KI-Gesetz beschlossen, das künftig den fundamentalen Grundstein für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz in Europa legen wird. Die EU-KI-Verordnung (Artificial Intelligence Act) tritt im Juni in Kraft und wird 24 Monate später, also ab Mitte 2026, anwendbar sein. Sie regelt detailliert, welche Daten überhaupt erhoben, wie sie genutzt und zusammengeführt werden dürfen. An „Hochrisiko-KI“ werden strenge Anforderungen gestellt. Zu den Folgen für Unternehmen – positiv wie negativ – hat Emmanuel Beule, Digitalreferent der IHK Südlicher Oberrhein, einen lesenswerten Aufsatz inklusive Handlungsempfehlung verfasst.
KI-Trainer wie Marcus Rüb wollen Firmen mit der neuen Welt vertraut machen, geben ebenso wie die Experten der Industrie- und Handelskammern (siehe Kasten) Schulungen und führen Machbarkeitsstudien durch. „Wer einen interessanten Use Case hat, kann sich an uns wenden.“ So wie ein Mittelständler, bei dem bildverarbeitende KI nun nicht nur Fehler in gelaserten oder gefrästen Aufdrucken auf Bauteilen erkennt, sondern auch Tipps zu deren Ursache gibt.
Output um bis zu 70 Prozent erhöht
Ein weiterer Bereich, in dem KI schon fest zum Alltag gehört, ist die Software-Entwicklung. „Hier wird die Welt gerade auf den Kopf gestellt“, sagt Pascal Laube, Professor an der Hochschule Furtwangen. „Ich habe noch alles selbst gecodet“, so der frühere Manager des St. Georgener Softwareentwicklers GFT über frühere Programmierarbeiten. Doch künftig werde man nur noch KI beim Coden anleiten und die Ergebnisse überwachen. „Bereits heute hat jeder Entwickler nebendran einen KI-Copiloten laufen.“ Das habe „den Output, den man am Tag schaffen kann, um 60 bis 70 Prozent erhöht“.
Brigitta Schrempp, Geschäftsführerin des Lahrer IT-Entwicklers Schrempp EDV und Vizepräsidentin der IHK Südlicher Oberrhein, bestätigt das. Ihre 90 Mitarbeiter nutzen ebenfalls KI-Copiloten bei der Entwicklung von ERP-Systemen für Kunden in ganz Europa. Schrempp: „Das macht unsere Prozesse wesentlich effizienter.“ Künftig plane man, KI auch im Kundensupport einzusetzen.
Furtwangen-Professor Pascal Laube schätzt, dass die zahlreichen KI-Code-Generatoren, die mittlerweile verfügbar sind, bereits „zu 90 Prozent solide Grundstrukturen“ programmieren können. Die restlichen zehn Prozent seien zwar noch einmal so aufwendig. „Doch auch das werden die Systeme irgendwann hinbekommen.“ Doch bis wann ist irgendwann? Laube lacht: „Die ersten KI-Algorithmen stammen bereits aus den 1960er-Jahren. Als ich 2013 anfing, mich damit zu beschäftigen, dachte ich, das dauert noch ewig.“ Limitierender Faktor sei stets die Rechenleistung gewesen. „Doch dieser Knoten hat sich gelöst. Das wird jetzt alles sehr schnell gehen.“
In der Produktion wird KI länger brauchen
Doch nicht in jedem Bereich wird KI „mit einem großen Knall“ kommen, so wie beim Programmieren oder im Marketing. In der Robotik etwa wird es laut dem Experten Laube „sehr kleinteilig“ vorangehen. Hier seien Unternehmen gerade erst dabei, überhaupt ihre Daten aus den Maschinen zu ziehen. „Sie sind noch mit Industrie 4.0 und IoT beschäftigt.“ Diese unstrukturierten Daten müsse man nun erst einmal verstehen, systematisieren, eventuell korrigieren, anschließend eine Semantik dahinter legen – „und dann erst geht es ans Machine Learning“.
Einfach gesagt, dreht sich das maschinelle Lernen um Anforderungen, die zu komplex sind, als dass man sie mit mathematischen Regeln beschreiben könnte. Daher werden selbstlernende Systeme mittels Lernalgorithmen angelernt, an derlei Fragestellungen quasi zu wachsen. Auf diese Weise prüft etwa der Getriebespezialist IMS Gear aus Donaueschingen mittels KI die Qualität seiner Produkte. Das ursprünglich als Zahnradlieferant für die Uhrenindustrie gegründete Familienunternehmen produziert heute vor allem Zahnräder, Baugruppen und Getriebe für die Autoindustrie. Hier ist äußerste Präzision gefragt. Daher durchlaufen alle Teile bestimmter Bauarten als letzten Fertigungsschritt eine Prüfanlage, in der neben anderen Tests von jedem Teil mehrere Bilder aufgenommen werden. Die KI sei darauf trainiert worden Fehler zu erkennen, etwa Verunreinigungen im Kunstsoff, und schleuse nun die betroffenen Teile bereits während des Prüfprozesses aus der Anlage aus, erklärt IMS-Data-Engineer Oliver Gerold.
Großes Potenzial beim typischen CNC-Fräser von der Alb
Auch an der Hochschule Furtwangen, an der gerade der neue Studiengang Künstliche Intelligenz und Robotik aufgebaut wird, laufen Forschungsprojekte dieser Art. Hier geht es etwa um KI, die für jeden Auftrag selbstständig Maschinenparameter einstellt, den Verschleiß von Werkzeugen oder den Ausfall von Maschinen vorhersagt. Prof. Laube: „Beim typischen CNC-Fräser von der Alb, wo jeder Kundenauftrag anders ist, hat das großes Potenzial.“
Das KI-Potenzial zu heben, versucht auch Fruitcore Robotics aus Konstanz. Deren Industrieroboter namens „Horst“ kommen in unterschiedlichen Branchen zum Einsatz: zum Packen, Separieren oder zur Maschinenbeschickung. Bedient werden sie zwar ganz normal per Touchscreen, allerdings unterstützt von einem KI-Copiloten auf Basis von Chat GPT. Die Idee: Selbst Anwender ohne Vorkenntnisse sollen den Roboter schnell für neue Aufgaben umrüsten können. Code-Schnipsel zur Schnittstellen-Programmierung etwa lassen sich so automatisch erstellen. „Der nächste Schritt“, heißt es vom Unternehmen, wäre dann die komplette Programmierung per Spracheingabe. Das allerdings sei „ein ungleich komplexeres Unterfangen“.
Im „Interfacing“, also der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine, sieht auch Laube ein „interessantes“ Feld. „Heute habe ich oft komplexe Bedienoberflächen. Doch künftig kann mir vielleicht eine KI direkt sagen, welche Parameter an einer Maschine warum nicht stimmen.“ Ein Fernziel in der Mensch-Maschine-Kommunikation könnte künftig sogar eine „generalisierte KI“ sein, eine KI also, die unterschiedlichste Maschinen und Produktionsprozesse verstehe.
Läuft in der Praxis
Wer nach bereits funktionierende Beispielen sucht, wird zunehmend fündig. Etwa beim Bürodienstleister Streit Service & Solution in Gengenbach. In dessen neuem Logistikzentrum mit intelligenter Autostoreanlage organisieren 27 Roboter die 26.000 Boxen mit über 30.000 verschiedenen Büroartikeln autark. Über Algorithmen steuert sich die Anlage selbst. Beispielsweise optimiert sich dadurch die Lagerposition der Ware, oder schnelldrehende Artikel werden im direkten Zugriff eingelagert, um so die Bearbeitungszeit zu beschleunigen. „Wir brauchen viel weniger Platz und dürfen und konnten unsere Produktivität deutlich steigern“, sagt Streit-Geschäftsführer Marc Fuchs. „Künstliche Intelligenz ist wirklich beeindruckend und notwendig, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben.“
Nächste Aixchange am 20. November
Wo wird Künstliche Intelligenz heute schon eingesetzt? Was kann sie in welchem Bereich leisten? Darüber können sich Unternehmen auf der zweiten „Aixchange“ informieren, die am 20. November an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen stattfindet. Organisiert wird die Veranstaltung vom KI-Lab Allgäu-Oberschwaben, dem KI-Lab Bodensee und KIM-Labs in Tuttlingen. Tickets kosten 79 Euro.
Weitere Infos unter www.aixchange-conference.de.
Ein weiteres Beispiel: Das Konstanzer Start-up Subsequent hat es geschafft, auf Basis simpler Videoaufnahmen menschliche Skelettbewegungen zu analysieren. Den Allensbacher Kliniken Schmieder hilft das bereits bei der Therapie von neurologischen Störungen oder der österreichischen Fußball-Nationalmannschaft beim Verbessern ihrer Taktik. Dafür hat die Subsequent GmbH bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. „Für die Analyse reicht ein Smartphone-Video“, sagt Geschäftsführer Manuel Stein. „Ohne KI wäre so etwas niemals möglich.“
Auch das Gesundheitswesen wird KI vermutlich revolutionieren. Das Zusammenführen und die Analyse großer Datenmengen, ob aus OP, MRT-Bildern oder medizinischen Geräten, dürften zu besseren Diagnosen führen, besserer Früherkennung oder auch besseren individuellen Implantaten, wie Britta Norwat vom Tuttlinger Medizintechnik-Netzwerk Medical Mountains erwartet. Große Medizinprodukte-Hersteller sind gerade dabei, dieses Feld zu erschließen. So hat der Tuttlinger Endoskop-Spezialist Karl Storz kürzlich den britischen KI-Spezialisten Innersight Labs übernommen, KLS Martin die Beteiligung am österreichischen Software-Anbieter CADS aufgestockt.
Nächste Evolutionsstufe: Embedded KI
Gerade erst in den Startlöchern steht indes eine weitere Form von Künstlicher Intelligenz: die Embedded KI. Hier werden Daten nicht über ein Netzwerk, sondern direkt lokal verarbeitet. „Das ist erst seit Kurzem möglich“, sagt Andreas Precht, Sprecher der Offenburger KI-Schmiede Aitad. Denn Mikrochips mit der nötigen Rechenleistung seien erst seit vier oder fünf Jahren überhaupt verfügbar. Mit einem Hersteller elektrischer Zahnbürsten etwa arbeitet Aitad an einem Gerät, das per Ultraschallsensor Zahnstein erkennt und über eine App anzeigt. Ebenfalls per Ultraschall sollen Wasch- und Spülmaschinen künftig Verschleiß und Fehlfunktionen vorhersagen, indem für das menschliche Ohr nicht hörbare Geräuschveränderungen analysiert werden. „Und das alles lokal, ohne Datenübertragung an irgendein Netzwerk – und damit ohne Sicherheitsrisiko“, so Precht. Derzeit suche man Pilotpartner aus der Landmaschinenbranche für einen KI-Infrarotsensor, der vom Traktor oder Mähdrescher aus Rehkitze im Feld erkennen soll. „Damit könnte man sich aufwendige Wärmebild-Drohnen sparen.“
Neuer KI-Studiengang in Furtwangen
Zum kommenden Wintersemester werden an der Hochschule Furtwangen die ersten 25 Teilnehmer des neuen Studiengangs „Künstliche Intelligenz und Robotik“ anfangen. Das siebensemestrige Studium im Fachbereich Informatik endet mit dem Bachelor of Science und bringt 210 ECTS. Studiengangsleiterin ist Maja Temerinac-Ott. Studienschwerpunkt ist die praktische Anwendung von KI in der Robotik. Dazu gehören Maschinelles Lernen, Deep Learning, Natural Language Processing und auch die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen.
Weitere Infos unter www.hs-furtwangen.de
Quickwins: JETZT!
Für Pascal Laube von der Hochschule Furtwangen ist klar: Künftig wird es „ganz normal“ sein, dass Unternehmen einen KI-Experten beschäftigen. Dabei mache es natürlich keinen Sinn, „auf einen Nutzen zu warten, der sich in fünf Jahren realisieren wird“. Vielmehr sollte jedes Unternehmen versuchen, „Quick wins“ durch KI zu realisieren, schnelle Erfolge, etwa in der Personalabteilung, im Marketing oder Controlling. Oder durch ein eigenes „Unternehmens-GPT“, das mit sämtlichen Firmendaten gefüttert wird und in Sekundenschnelle unterschiedlichste Fragen beantwortet – etwa „wie ist der aktuelle Stand beim Projekt xy?“.
„Das gilt übrigens auch für uns als Hochschule“, sagt Laube. Manche Professoren etwa wollten ihren Studenten die Nutzung von Chat GPT verbieten. Er selbst sieht das anders. „Meine Arbeiten sind jetzt doppelt so schwer. Denn ich erwarte von meinen Studierenden, dass sie KI nutzen.“
Text: Jürgen Baltes
Bilder: Tanawat Thipmontha/Martin (oben)