Mit der ganz großen Begeisterung werden Nachhaltigkeitsberichte selten geschrieben – aber gelebt wird das Thema in so ziemlich jedem Betrieb. Mit welcher Philosophie und welchem Angang, das haben unsere Autoren genauer untersucht – und überraschende Erkenntnisse gesammelt.

Lieber Millionen investieren statt einfach Zahlen dokumentieren: Otto Graf ist einer von diesen selbstbewussten Mittelständlern im Südwesten, der noch keinen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht hat. Auf den ersten Blick ist die Graf GmbH in Teningen auch kein besonders grünes Unternehmen. Signalrote Fassade, turmhohe Silos für Kunststoffgranulat, Unmengen schwarzer Plastiktonnen auf dem Hof – und doch sagt Inhaber Otto P. Graf selbstbewusst: „Bei uns beschäftigen sich nicht nur ein paar wenige Menschen mit Nachhaltigkeit, damit man eine Grundlage fürs Marketing hat – sondern alle Mitarbeiter!“ Wer’s nicht glaubt, dem zeigt der Chef das Dach oder nimmt ihn mit ins Graf Kompetenzzentrum Rohstoffe in Herbolzheim, wo jedes Jahr 50.000 Tonnen Kunststoffe recycelt werden.

Wie nachhaltig die Industrie ist…
Die Fahrt von Teningen nach Herbolzheim kann man nutzen – für ein bisschen Theorie. CSRD; DNK; ESG; GRI; ESRS; LkSG; THG-Bilanz: Nachhaltigkeit in Unternehmen beginnt mit abschreckendem Fachchinesisch. Dazu kommt: Wirtschaftskrisen und Wahlergebnisse in den USA scheinen dem eigenen CO2-Fußabdruck in Sachen Relevanz den Rang abzulaufen. Dass dem nicht so ist, bestätigt eine Studie, die der Wirtschaftsverband wvib Schwarzwald AG gemeinsam mit Felix Zimmermann jetzt vorstellte. Zentrale Botschaft: Die Industrie sieht Nachhaltigkeit als Notwendigkeit – und übt Kritik an den Dokumentationspflichten. Zimmermann (ehemaliger CFO und CEO börsennotierter Unternehmen) hat mit „ESG Made in Germany“ ein Buch geschrieben, in dem auch zehn baden-württembergische Unternehmen von der Integration der Nachhaltigkeit in ihre Unternehmensstrategie berichten. Seine Studie unter 100 Industrieunternehmen flankiert dieses Buch und liefert empirische Anhaltspunkte. Kaum jemand bezweifelt demnach, dass es mehr Nachhaltigkeit braucht: 55 Prozent der Befragten halten die Transformation für „zwingend notwendig“, 40 Prozent für „grundsätzlich sinnvoll“. Die Regeln zur Förderung der Transformation halten dagegen nur sieben Prozent für zwingend notwendig, 61 Prozent halten sie für grundsätzlich sinnvoll. Die Kritik an einzelnen Vorschriften ist noch größer – vor allem dann, wenn man für die Erstellung einer Treibhausgasbilanz oder für die EU-Taxonomie noch externe Dienstleister beauftragen muss, weil man vor diesen Aufgaben oft steht wie der Ochs vorm Berg.

Ab 2026 trifft‘s auch kleine Betriebe
Wie Geschäftsführungen meinen oder fühlen, ist allerdings ziemlich egal. Ab 2026 gilt die Nachhaltigkeitsberichtspflicht auch für bilanzrechtlich kleine und mittelgroße Unternehmen. Damit steigt die Zahl der nachhaltigkeitsberichtspflichtigen Organisationen in Deutschland von 500 auf 15.000. Und die Zahl der Berichtsvarianten steigt mit: Mittlerweile haben Unternehmen die Wahl, ihre Daten beim Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) einzureichen (kostenlos), die vom Land Baden-Württemberg ebenfalls kostenlos zur Verfügung gestellte Klimawin (bis 2023 WIN-Charta) zu nutzen, eine EcoVadis Enterprise-
Mitgliedschaft zu erwerben, um sich auf dieser internationalen Bewertungsplattform ein Rating zu verschaffen oder es einfach selbst anzugehen. Denn: Zur Pflicht von oben (dem Gesetz) gesellt sich der Druck von unten – vom Markt, weil große Unternehmen ihre Berichtspflichten auf Zulieferer und Geschäftspartner abwälzen. Felix Zimmermann präzisiert: Die größten Treiber für die nachhaltige Transformation seien mit 76 Prozent der Nennungen die gesetzlichen Regulierungen und mit 68 Prozent die Auftraggeber.
Recycling? Machen wir einfach selbst
Zurück zu Graf: Das Familienunternehmen fertigt mit weltweit mehr als 750 Mitarbeitern im Südwesten vor allem Produkte rund um das Thema Regenwassermanagement und Wasserbewirtschaftung aus selbst recyceltem Kunststoff. Der Hauptsitz ist in Teningen, zudem gibt es Werke in Herbolzheim, Neuried und im elsässischen Dachstein. Doch da am Markt recycelter Kunststoff zu bezahlbaren Preisen und in guter Qualität kaum zu bekommen war, hat das Unternehmen mit dem Kompetenzzentrum Rohstoffe hier in Herbolzheim eine der modernsten Kunststoff-Recycling-Anlagen der Welt einfach selbst entwickelt – und gebaut. Inzwischen entstehen hier rund 75 Prozent des für die eigene Produktion benötigten Rohstoffs aus ordinären Haushaltskunststoffabfällen. Und so werden bei den Südbadenern – mal bildlich gesprochen – aus Milliarden Joghurtbechern und Shampooflaschen zunächst Rezyklate und schließlich langlebige Umweltprodukte, die wiederum Trinkwasserressourcen schonen. Gelabelt werden die GRAF-Produkte aus Recycling daher entsprechend als Green Planet Collection. Das Unternehmen spart so nach eigenen Angaben 100.000 Tonnen CO2 Emissionen ein.
Millionen für Photovoltaik
Auch die für die Produktion benötigte Energie gewinnt das Unternehmen zunehmend nachhaltig. In den vergangenen zwei Jahren wurden alle Dachflächen an den badischen Produktionsstandorten mit Photovoltaik-anlagen ausgestattet. Gesamtleistung: sechs Megawatt. Eine Millioneninvestition und „eine der größten Solarflächen in ganz Baden-Württemberg“, sagt Geschäftsführer Otto P. Graf, dessen Mitarbeiter im nächsten Jahr ihren ersten Nachhaltigkeitsbericht schreiben müssen. „Das ist in unserem Fall völlig sinnfrei und gehört sofort abgeschafft“, findet der Chef. „Diese Bürokratie bringt uns bei gelebter Nachhaltigkeit im Mittelstand überhaupt nicht weiter. Im Gegenteil: Das verschlingt nur Personalressourcen.“ Anders steht es da um Maßnahmen für die Energierückgewinnung oder eben gelebte Nachhaltigkeit: „Die Nutzung von Solarenergie zur Herstellung unserer Produkte ist ein wichtiger Schritt in unserer Nachhaltigkeitsstrategie“, sagt Graf. „Denn sie ermöglicht es uns nicht nur, unsere Produktionskosten zu senken, sondern auch unsere Emissionen weiter zu reduzieren und damit unsere Umweltprodukte möglichst ressourcenschonend herzustellen.“

Eigenes Nachhaltigkeits-Rating
Auch in Lörrach prägt die Philosophie der Unternehmenseigner die Nachhaltigkeitsstrategie. „Unsere Inhaberfamilie ist nicht erst seit gestern ein wesentlicher Treiber bei der Nachhaltigkeit“, sagt Milena Amrein, Nachhaltigkeitskoordinatorin der ARaymond Germany GmbH & CO. KG in Lörrach, Teil eines internationalen Unternehmensnetzwerks der Automobil-Zulieferindustrie und fügt hinzu: „Unsere Kunden fragen die Nachhaltigkeit unserer Produkte und Produktionsprozesse ab – per Mail, Fragebogen oder Excel-Tabelle. Das haben wir gesammelt und uns für einen Onepager entschieden – mit allen relevanten Nachhaltigkeitsinformationen, mit einem Verweis auf unseren WIN-Bericht sowie das EcoVadis- und SAQ-Rating.“
Wer heute mehr über die Nachhaltigkeit des französischstämmigen Familienunternehmens wissen will, kann dies in dessen WIN-Charta Bericht nachlesen: online unter www.nachhaltigkeitsstrategie.de. Das Land Baden-Württemberg hat auf dieser Seite die Berichte von mehr als 350 Unternehmen veröffentlicht, dazu zahlreiche Best-Practice-Beispiele. Worauf Milena Amrein Wert legt: „Wir haben diese Form der Berichterstattung genutzt, weil sie einen zum Unternehmen passenden Sound zulässt. Das hätten wir mit einem Bericht via DNK oder nach GRI-Standard nicht so pragmatisch hinbekommen.“
Nachhaltigkeit ist wichtig und wir müssen etwas tun: Das war die Motivation beim Software-Spezialisten KNIME in Konstanz, sagt Iris Adä. Sie kümmert sich um das Thema Nachhaltigkeit und sieht dieses Engagement als intrinsisch motiviert: „Die Menschen in unserem Unternehmen, von denen viele Kinder haben, sorgen sich um die Zukunft dieser Welt, weshalb ein möglichst positiver Fußabdruck selbstverständlich für uns ist.“ KNIME entwickelt Open Source Software für die interaktive Datenanalyse. So lag es nahe, dass KNIME seine eigene Software, die KNIME Analytics Platform, sowohl zur Datenerhebung als auch zum Reporting für die Nachhaltigkeitsstrategie verwendet. Diese Lösung bietet KNIME nun auch anderen zum kostenlosen Download an. Dies wurde in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Erdal Yalcin von der HTWG Konstanz erstellt, der im Bereich Treibhausgasbilanzierung forscht.

Nachhaltigkeit als Chefsache
Mit Roland Zeifang kümmert sich beim Oberkircher Unternehmen Ruch Novaplast GmbH & Co. KG der Geschäftsführer um die Nachhaltigkeit. Er ist beim wvib im Nachhaltigkeitsbeirat engagiert und begründet dies wie folgt: „Immer, wenn ein komplexes Thema aufkommt, sollte ein Verband seine Mitgliedsunternehmen unterstützen.“ Dass Unternehmen in diesem Fall Netzwerke brauchen, sieht auch Kerstin Löffler von Faller Packaging so. Sie war bei der Vorstellung der Studie mit dabei und bekannte: „Wir sehen, dass es kein wichtigeres Thema gibt, wenn auch der Teufel im Detail liegt.“
Lörrach als Pionier
Dass auch eine Kommune ein hilfreiches Netzwerk sein kann, offenbart der Blick nach Lörrach, wo jüngst die 4. Nachhaltigkeitskonferenz stattfand, bei der es um die Entwicklung des Lauffenmühle Areals geht. Die Industriebrache soll zum nachhaltigsten innerstädtischen Gewerbestandort der Republik werden, weshalb die Lörracher Bürgermeisterin Monika Neuhöfer-Avdić mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zusammenarbeitet, um auch Upcycling im Projekt zu etablieren. Und weil sie auch zuständig ist für den Forst, sieht sie Schadholz als Potenzialholz und als Rohstoff vor der Haustür, mit dem auf dem Lauffenmühle Areal ab 2026 gebaut wird. „Die Offenheit für eine nachhaltige Zukunft ist das Wichtigste. Dazu gehört das Vergrößern der Wertschöpfungskette und die Stärkung der Regionalität. Das kommt der Wirtschaft zugute, die wir mit dem Lauffenmühle Areal unterstützen, weil deren Alleinstellungsmerkmale auf die Nachhaltigkeitsstrategie der Unternehmen einzahlen werden.“
Doris Geiger, Ulf Tietge