Die Substanz der deutschen Wirtschaft leidet und schwindet, sagt Volkswirt Lars Feld, der Wirtschaftsweise a.D. von der Uni Freiburg. Zu hohe Arbeitskosten, zu viel Regulatorik, zu hohe Steuern – und doch gebe es Hoffnung, erläutert der Experte im Interview mit Ulf Tietge.
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Was hilft der deutschen Wirtschaft aus der Krise? Antworten auf diese Frage gibt es von Politikern derzeit zuhauf – aber was davon ist wirklich fundiert? Genau das haben wir den bekanntesten Volkswirt aus dem Südwesten gefragt: Lars Feld, Professor für Wirtschaftspolitik an der Uni Freiburg, Direktor des Walter Eucken Instituts und bis 2021 der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Ein Wirtschaftsweiser also – und einer mit besten Verbindungen in die Politik. Denn Feld war bis 2003 Mitglied der SPD, engagiert sich heute im Dunstkreis der CDU, hat am Lindner-Papier mitgewirkt und hegt Sympathien für die Grünen …
Herr Feld, fünf magere Jahre liegen hinter uns. Seit 2019 ist die Wirtschaft in Deutschland um gerade einmal 0,3 Prozent gewachsen. Warum ist das so?
Wir sind durch Corona in ein tiefes Tal gefallen, aber schnell wieder herausgekommen. Ab 2021 wurde es steiniger, unter anderem wegen der Schließungsmaßnahmen und der Übertreibung der Corona-Gefahr. 2022 kam der Schock durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. In diesem Zusammenhang wurden die seit längerem bestehenden Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft offensichtlich. Die deutsche Industrieproduktion sinkt seit 2017. Das hat sehr viel mit dem Automobilsektor zu tun – aber auch damit, dass wir die Industrie insgesamt zu stark belasten.
Was genau sind unsere Strukturprobleme?
Deutschlands Unternehmen sehen sich einem toxischen Gemisch aus überhöhten Arbeitskosten, Energiekosten, Steuerbelastungen und Regulierungskosten gegenüber. Und diese Kosten basieren zum großen Teil auf gesetzlichen Vorgaben.
Also ist die Krise der deutschen Wirtschaft hausgemacht?
Zu einem guten Teil, ja. Wir hatten im Bereich der Energieversorgung durch das billige russische Gas lange einen Vorteil, insbesondere gegenüber den asiatischen Volkswirtschaften. Die Gaspreise sind jetzt ähnlich hoch wie in Asien und deutlich höher als in den USA. Und gerade den Abstand zu den USA merkt man deutlich. Das ist der Einfluss von außen. Aber durch unsere Arbeitskosten sowie die Art und Weise, wie wir im Energiesektor Klimaneutralität erreichen wollen, die Regulierungsintensität und weil wir im Gegensatz zu anderen OECD-Ländern in der Besteuerung nach 2008 keinen nennenswerten Reformschritt mehr hingebracht haben, sind wir ins Hintertreffen geraten.
Es vergeht derzeit kaum ein Tag mehr ohne schlechte Nachrichten. VW, Bayer, Bosch, Thyssenkrupp – ist das eine vorübergehende Krise oder der Anfang einer neuen Wirklichkeit, weil der Standort Deutschland nicht mehr so wettbewerbsfähig ist wie noch vor zehn Jahren und es einfach keine Perspektive gibt?
Ich würde nicht sagen, dass es nur eine vorübergehende Krise ist. Man kann nicht darauf hoffen, dass es irgendwann wieder besser wird und einfach alles laufen lassen. All diese Negativschlagzeilen sind Anzeichen dafür, dass die Substanz der deutschen Wirtschaft, insbesondere die industrielle Basis, nachhaltig beschädigt wird. Die Rahmenbedingungen müssen sich ändern, damit es nur vorübergehend bleibt und wir uns über Strukturwandel auf neue Bedingungen einstellen können. Dazu müssen wir den Unternehmen wesentlich mehr Luft verschaffen und die Kosten in den wesentlichen Bereichen reduzieren.
Und wie?
Die Lösung unserer Probleme findet sich in den Bereichen Arbeit, Energie, Steuern und Regulierung. Und da kann man sehr viel machen! Zu komplizierte Regeln erfordern viel Verwaltung – beim Staat und bei den Unternehmen. Der erste Schritt wäre es, die Komplexität unserer Regulatorik zu reduzieren. Das wirkt sich auf viele Bereiche aus: auf Steuern, Energie, Klima und den Arbeitsmarkt. Denken Sie nur mal an Stihl, die wegen der Arbeitskosten in der Schweiz investieren und nicht hier. Dabei sind die Nominallöhne in der Schweiz viel höher! Aber das relativiert sich eben, wenn man Lohnzusatzkosten, Sozialversicherungsbeiträge, Krankheitstage, Urlaubsanspruch, Arbeitszeit- und Kündigungsschutzvorschriften mit einrechnet. Und das alles lässt sich unter dem Begriff Regulierung zusammenfassen – und ist Ausdruck eines übergriffigen Staates.
Wenn die Diagnose so klar ist, so offensichtlich – was ist dann die Therapie? Was muss konkret passieren, damit wir wieder wettbewerbsfähig werden?
Wir brauchen Deregulierung im Bereich der Arbeitskosten, eine Reform des Datenschutzrechts, die Reduzierung von Umwelt- und Klimaregulierungen sowie eine Reform des Baurechts. Bei Energie sollten die Abgaben weiter sinken, wir brauchen ein möglichst marktwirtschaftliches Design des Energiemarktes und wir brauchen eine Steuerreform für Unternehmen. Die Belastung sollte um fünf Prozentpunkte sinken, da es sich momentan zu sehr lohnt, im Ausland zu produzieren.
Ist das denn ein Problem?
Früher haben Unternehmen Werke im Ausland eröffnet, um neue Märkte zu bedienen oder sich dort zu erweitern, wo sie Chancen sehen. Inzwischen aber wird verlagert. Es werden Produktionsanlagen im Inland ab- und im Ausland aufgebaut – aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit und der Standortqualität. Früher hielt ich die Transaktionskosten für solche Industrieverlegungen für viel zu hoch, aber das sehe ich mittlerweile anders. Unternehmen, die Industrieanlagen abbauen und woanders aufbauen, erleben einen Boom. Und das ist aus meiner Sicht ein extremes Alarmsignal! Miele und BASF sind Beispiele dafür.
Es gibt derzeit die unterschiedlichsten Ideen im anlaufenden Wahlkampf, um den Standort wieder flott zu kriegen. Was halten Sie davon, die Schuldenbremse zu lockern – für mehr staatliche Investitionen und Subventionen?
Das würde ich auf keinen Fall machen – und schon gar nicht für Subventionen.
Das Rentenalter heraufsetzen oder Arbeit im Ruhestand lohnender gestalten?
Das ist zwar konjunkturell nicht wesentlich, aber strukturell richtig, da wir so auf dem Arbeitsmarkt Entlastungen erreichen und die Lohnzusatzkosten unter Kontrolle halten.
Die Zuwanderung begrenzen und ein strengeres Ausländerecht einführen – beispielsweise nach dänischem Vorbild?
Bei der Zuwanderung muss man vorsichtig sein. Das Asylrecht ist ein wichtiges Grundrecht. Zudem benötigen wir qualifizierte Arbeitskräfte. Wir müssen jedoch illegale Zuwanderung begrenzen und bessere Bedingungen für legale Zuwanderung schaffen.
Also den Arbeitsmarkt für Nicht-EU-Ausländer öffnen?
Ja, und zwar für Fachkräfte. Industrievertreter wie Gewerkschaften müssen aber endlich deutliche Abstriche bei der Anerkennung von Abschlüssen machen. Bisher ist das ein bürokratisches Monstrum, das die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte massiv behindert. Ich glaube nicht, dass es viel mehr brauchen sollte als einen gut dotierten Arbeitsvertrag. Ich habe selbst erlebt, wie Behörden vermeintliche Spracherfordernisse vorschieben und dann Zuwanderer aus den USA ganz anders behandeln als exakt gleich qualifizierte Menschen aus einem Balkanstaat. So darf man mit Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen heute nicht mehr umgehen.
Bürokratie abbauen?
Ja, aber nicht so, wie man es jetzt in den USA zu versuchen scheint, wo Elon Musk einfach Bundesbehörden aufs Korn nimmt. Das ist nicht der richtige Weg. Ich finde, man muss bei der Regulatorik anfangen und da ist der Gesetzgeber für 60 Prozent aller Regulatorikkosten direkt verantwortlich. Und das auf Bundes- wie auf Landesebene.
Überstunden steuerlich begünstigen?
Nein, denn das Gestaltungspotenzial ist enorm, und die Abgrenzungsprobleme sind nicht beherrschbar.
Das Bürgergeld wieder abschaffen?
Man kann das Bürgergeld nicht abschaffen. Man kann es nur reformieren, denn es muss eine Grundsicherung für Erwerbsfähige geben, die aus dem Arbeitslosengeld herausfallen – aber die Anreize zur Arbeitsaufnahme müssen deutlich gestärkt werden.
Und was von diesen Ideen ist politisch umsetzbar nach dem Februar?
Das hängt davon ab, mit wem die CDU/CSU koalieren kann. Mit der SPD sind Reformen im Arbeitsmarkt und sicher auch im Sozialbereich unmöglich. Mit den Grünen ist es bei Migration, Regulierung, Klima und Umwelt schwierig. Man darf aber nicht vergessen: Für die deutsche Wirtschaft ist der Außenhandel entscheidend und damit die Außenpolitik. Und bei geostrategischen Themen, bei Sicherheit und Verteidigung dürften die Grünen der verlässlichere Partner für die CDU/CSU sein.
Sie sprechen gar nicht über die FDP?
Eine bürgerliche Koalition ist nicht in Sicht. Die Union müsste über 35 Prozent kommen, und die FDP mit sechs bis sieben Prozent reinkommen. Derzeit aber scheinen beide in den Umfragen an eine Glasdecke zu stoßen.
Wie sehen Sie Lindners Grundsatzpapier? War das eine parteipolitisch motivierte
Provokation, um aus der Ampel zu kommen, oder hat da jemand einen Plan, der wirklich funktionieren könnte?
Ich bin in der Hinsicht befangen. Ich habe am Lindner-Papier mitgewirkt. Die Inhalte greifen auf Themen und Thesen zurück, die ich zuvor geäußert habe. Daher kann ich nicht sagen, dass ich unschuldig an diesem Papier bin, und es ist nicht überraschend, dass ich es gut finde.
War Ihnen klar, was daraus erwächst, oder hatten Sie die Hoffnung, die anderen Koalitionspartner überzeugen zu können?
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Christian Lindner und mir war klar, dass diese Initiative ergebnisoffen sein muss. Wenn sich die Koalitionspartner aufeinander zubewegt hätten, gäbe es die Ampel heute noch. Die Grünen haben sich bis zum Vorabend des Platzens der Ampel-Koalition auf die FDP bemerkenswert weit zubewegt, die SPD jedoch keinen Millimeter.
Ist aus Ihrer Sicht die SPD das Problem?
Durchaus. Die SPD regiert seit 1998, mit Ausnahme von vier Jahren zwischen 2009 und 2013. Sie ist verantwortlich für die besseren Rahmenbedingungen während der Amtszeiten von Gerhard Schröder. Sie trägt aber auch die Verantwortung für die zunehmende Misere ab 2013, weil die Reformen der Agenda 2010 auf ihr Betreiben hin Stück für Stück zurückgedreht wurden.
Wir diskutieren viel über Berlin, die Ampel und die Wahl, nicht aber über Brüssel, die EU oder die Zinspolitik der EZB. Ist Europa wirtschaftspolitisch noch ein Gewinn für Deutschland oder eher eine Belastung?
Die EU ist immer noch ein Gewinn für Deutschland. Der europäische Markt ist enorm wichtig für uns. Auch der Euro ist wichtig, da er die Bedingungen grenzüberschreitend innerhalb der europäischen Währungsunion für deutsche Unternehmen verlässlich macht. Wenn wir den Außenwert der Währung betrachten, würde Deutschland mit der D-Mark eine massive Aufwertung im Vergleich zu den europäischen Partnern erleben, was unsere wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch verstärken würde.
Walter Eucken
Als unabhängige Einrichtung betreibt das Freiburger Walter Eucken Institut wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung in der Tradition der Freiburger Ordoliberalen Schule. Kernfrage: Wie lässt sich eine marktwirtschaftlich-wettbewerbliche Ordnung erhalten und weiterentwickeln? Weitere Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Finanzwirtschaft.
Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass die EZB-Zinspolitik nicht unbedingt hilfreich ist, um die deutsche Konjunktur wieder anzukurbeln.
Das ist richtig. Wir haben mehr Dynamik in anderen europäischen Ländern und die EZB versucht, für die gesamte Währungsunion Geldpolitik zu betreiben. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass Frankreich eher im Mittelpunkt steht. Ich kann jedoch nicht sagen, was das angesichts der Turbulenzen in Frankreich bedeutet, wenn die Zins-
aufschläge steigen, weil eine Regierung platzt und es nicht gelingt, den Haushalt zu konsolidieren. Vor diesem Hintergrund wird es für die EZB vielleicht interessanter, ein adäquates Zinsniveau für Deutschland zu schaffen.
Deutschland stagniert seit fünf Jahren und in dieser Zeit hat sich die Art und Weise, wie wir arbeiten, sehr verändert. Gibt es einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu Themen wie Vier-Tage-Woche, New Work oder Homeoffice?
Es ist schwierig, negative Auswirkungen dieser Trends auf das Wirtschaftswachstum zu identifizieren. Aber man stellt schon fest, dass sich unser gesellschaftliches Mindset verändert hat. Seit 2013 gibt es die Mentalität, dass alles eigentlich ganz gut läuft. Also hat man den Arbeitsmarkt re-reguliert, die Reformen der Regierung Schröder zurückgedreht und das Rentenpaket der Sozialdemokraten setzt den Nachhaltigkeitsfaktor außer Kraft. Nur die finanzpolitischen Reformen aus der Schröder- und der ersten Merkel-Ära sind noch in Kraft. Und genau da geht man jetzt dran. Man will die Schuldenbremse abschaffen und die Steuern erhöhen. Die nächste Forderung der Gewerkschaft ist dann die 30-Stunden-Woche, am liebsten verknüpft mit einem bedingungslosen Grundeinkommen. Dann aber muss man sich nicht wundern, wenn man danach kein Geld mehr zum Leben hat.
Von 2001 bis 2021 pendelte der Krankenstand in Deutschland relativ stabil zwischen drei und vier Prozent. Seit drei Jahren sind wir bei um die sechs Prozent – und damit so hoch wie nirgends sonst auf der Welt. Ist das eine Folge der demografischen Entwicklung, eines neuen Mindsets oder das Resultat falscher Politik?
Das ist vor allem das Resultat falscher Politik. Schauen Sie mal in die Schweiz, wo der Krankenstand viel niedriger ist. Die Schweizer ernähren sich aber nicht anders als wir, die Demografie ist vergleichbar, das Gesundheitssystem ebenfalls. Aber es gibt in der Schweiz keine gesetzliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, man kann sich nur privat absichern. Das machen aber die wenigsten.
Hat Deutschland ein Mentalitätsproblem?
Im Moment ja. Das Reformbewusstsein steigt, aber da der größte Teil der Bevölkerung von der aktuellen Krise noch kaum betroffen ist, ist das Bewusstsein nicht ausreichend, um nennenswerte Reformen durchzuführen.
Das heißt, die Krise muss erst noch schlimmer werden.
Vielleicht ist das so, ja. Ich hoffe jedoch, dass man es früher erkennt.
Wenn Sie an den Standort Deutschland denken, was macht Ihnen Hoffnung?
Mir macht Hoffnung, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten immer dann, wenn neue Weichenstellungen nötig und Reformen gefragt waren, in der Lage waren, das in unserem politischen System auch umzusetzen. Deutschland ist reformfähiger als beispielsweise Frankreich oder Italien.
Lars Feld
Lars Feld (*9. August 1966 in Saarbrücken) ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Uni Freiburg und Direktor des dortigen Walter Eucken Instituts. Von 2011 bis 2021 war er Mitglied im Rat der Wirtschaftsweisen, zuletzt als dessen Vorsitzender. Seit 2003 ist Feld Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums der Finanzen und seit 2020 auch der Mindestlohnkommission. Von 2022 bis 2024 war er persönlicher Berater von Bundesfinanzminister Christian Lindner.