Mit dm steigt ein Riese ins Apothekengeschäft ein. Was heißt das für die Zukunft der noch 17.000 Apotheken in Deutschland? Über bittere Pillen, hohe Ansprüche und eine Branche mit viel Verantwortung – und großen Sorgen…

Der Karlsruher Drogerie-Gigant dm bereitet den Start seiner Online-Apotheke vor. Ab der zweiten Jahreshälfte werde man rezeptfreie Arzneimittel über das Internet verkaufen und damit das bestehende Gesundheitssortiment erweitern. Damit steigt ein weiterer Riese ins Apothekengeschäft ein. Deutschlands Markführer unter den Drogerien verfügt allein hierzulande über mehr als 2.100 Filialen und erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2023/24 einen Umsatz von 12,5 Milliarden Euro. Inklusive Auslandsgeschäft sind es 17,7 Milliarden, 11,6 Prozent mehr als im Vorjahr.
Ein Rekordtief
Auch ohne die angekündigte Versand-apotheke von dm stecken viele stationäre Apotheken in finanziellen Schwierigkeiten. Dabei sind die Online-Apotheken weder ihr einziges Problem noch ihr größtes. Die Zahl der Apotheken sinkt in Deutschland seit Jahren. Ende 2024 vermeldete die Apothekervereinigung ABDA ein Rekordtief von rund 17.000 Apotheken. Immer mehr Apotheke würden schließen, immer weniger neu eröffnen. In Baden-Württemberg ist ihre Zahl in den vergangenen 15 Jahren um über 20 Prozent auf 2.150 geschrumpft.
Christina Braun ist Inhaberin der Stadt-Apotheke in Dornhan im Landkreis Rottweil, eingebettet zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb. Eine Kleinstadt mit rund 6.200 Einwohnern, zwei Hausarztpraxen, einer Apotheke. Dort beschäftigt Braun aktuell 16 Mitarbeiter, die meisten davon Frauen und viele in Teilzeit.

Es braucht eine faire Vergütung
Braun liebt ihren Beruf. Umso emotionaler ist für sie das, was die Apotheken derzeit in Bedrängnis bringt: die Unterfinanzierung. „Die Kosten sind in den letzten Jahren um 50 bis 60 Prozent gestiegen, gleichzeitig sind wir im Prinzip auf dem Stand von vor 20 Jahren, was die Vergütung angeht“, bemängelt sie. „Viele denken, Apotheker verdienen viel. Die Zeiten sind lange vorbei.“
Apotheken machen 80 Prozent ihres Umsatzes über die Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel. Für diese gilt ein gesetzlich festgelegter, bundesweiter Festpreis. Das soll verhindern, dass die Notlage kranker Menschen ausgenutzt wird. Und das ist gut, findet Apothekerin Braun. „Aber es muss fair sein.“
Die Marge, die Apotheken von den Krankenkassen zugestanden bekommen, beträgt drei Prozent des Einkaufspreises, hinzu kommen fix 8,35 Euro je Packung. Das reduziert sich allerdings, weil die Apotheken gesetzlichen Krankenkassen einen Rabatt von derzeit 1,77 Euro gewähren müssen. Weitere 21 Cent gehen an einen Fonds, aus dem die Notdienste mitfinanziert werden. Aus dem Gesamtbetrag müssen die Betriebskosten gedeckt werden.
Die restlichen 20 Prozent Umsatz machen Apotheken über den Verkauf rezeptfreier Medikamente, Cremes oder Halsbonbons.

Der Versandhandel, vor allem der ausländischen Versandapotheken wie Doc Morris, Shop-Apotheke und Co., setzt diesem Konstrukt zu. Da sind zum einen die bequeme Bestellung rund um die Uhr und von überall, die Lieferung direkt nach Hause und die pharmazeutische Beratung über digitale Kanäle, wie es eine Sprecherin der Shop-Apotheke beschreibt. Da haben die Apotheken vor Ort zwar ordentlich nachgerüstet – doch wenig Spielraum haben sie bei einem weiteren Aspekt: den Preisen. Online-Händler dagegen können freiverkäufliche Produkte zu Preisen anbieten, bei denen die stationären Apotheken aufgrund ihrer Kostenstruktur mit Steuern, Miete und Personal kaum mithalten können.
Boost durch das E-Rezept
Entsprechend haben sie in diesem Segment in den vergangenen Jahren Marktanteile verloren. Die Einführung des E-Rezepts 2024 führte zusätzlich beim Online-Handel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten zu teils enormen Umsatzsteigerungen. Unter anderem deswegen konnte die Betreiberin der Shop-Apotheke, die Redcare Pharmacy mit Sitz im niederländischen Sevenum, ihren Konzernumsatz im vergangenen Jahr um rund ein Drittel auf insgesamt 2,4 Milliarden Euro steigern. Auch durch gezielte und teure Marketingkampagnen gewann das Unternehmen zahlreiche neue Kunden. Sogar „Wer wird Millionär“-Moderator Günter Jauch lächelt von Plakaten und in Kameras von Werbespots und zog damit den Zorn der Apotheker auf sich. Der Vorwurf: Jauch befeuere das Apothekensterben noch …
Ähnliche Vorbehalte muss sich nun auch dm gefallen lassen. Das Karlsruher Unternehmen wird zunächst nur rezeptfreie Medikamente verkaufen. Aber auch das ist ein wachsender Markt – mit derweil elf Milliarden Euro Umsatz im Jahr, so der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie.
Die Drogeriekette dm hat für ihr Apothekengeschäft extra eine Gesellschaft in Tschechien gegründet und will von dort aus liefern. Zwischen den Ländern bestehen deutliche Unterschiede im Apothekenwesen. In Deutschland ist der Versandhandel an eine Apotheke vor Ort gebunden, daher sitzen viele Online-Apotheken im Ausland. Und anders als bei uns können sich beispielsweise in den Niederlanden große Apothekenketten problemlos in Form von Kapitalgesellschaften bilden – und dann nach Deutschland liefern.
Für dm scheint der Handel auch mit rezeptpflichtigen Medikamenten nicht ausgeschlossen. Für eine Apotheke mit Sitz in Tschechien und für Drogeriemärkte ist deren Verkauf in Deutschland nicht möglich. Das ist bislang nur aus den Niederlanden erlaubt. Man beobachte aber die Entwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, teilt Sebastian Bayer, Geschäftsführer Marketing und Kommunikation bei dm, mit.
Als Grund für die geplante Online-Apotheke verweist Bayer auf den sich verändernden Gesundheitsmarkt in Deutschland, etwa durch Digitalisierung, Apothekensterben, demographischen Wandel und dadurch veränderte Bedürfnisse der Kunden. In der Konsequenz würden die Gesundheitskosten stetig steigen.

Die regulatorischen Rahmenbedingungen könnten sich daher bald ändern, glaubt man bei dm. „Wenn es zu einer gesetzlichen Neuregelung in Deutschland kommt (…), wird es sicher unternehmerische Initiativen geben, die diese dringend erforderlichen Veränderungen mit konstruktiven Lösungen nutzen“, so Bayer. „Sie sind dann, wie wir, Teil einer Lösung, wenn es um eine erschwingliche, verlässliche und vor allem flächendeckende Versorgung mit Gesundheitsprodukten in Deutschland geht.“
Wie das aussehen könnte, da hat man bei dm offenbar schon recht genaue Vorstellungen. Drogerien mit integrierter Apotheke, wie es sie in den USA gibt, könnten ein Vorbild sein, hat dm-Geschäftsführer Christoph Werner jüngst in einem Interview mit den Badischen Neuesten Nachrichten erklärt.
Pläne von Karl Lauterbach könnten diesen Überlegungen in die Karten spielen. In seiner Funktion als Bundesgesundheitsminister wollte er mit einer Apothekenreform gegen den Rückgang der Apotheken vorgehen. Unter anderem sollen Apotheken nicht mehr ausschließlich von Apothekern geleitet werden dürfen, sondern auch von Pharmazeutisch-Technischen-Assistenten. Das sollte gegen den Personalmangel helfen. Denn es fehlt an Fachkräften wie an Nachwuchs. Die Reform sollte außerdem Filialgründungen erleichtern. Bislang dürfen Apotheker nicht mehr als drei Filialen betreiben. Nach Kritik von Apothekerseite und dem Ampel-Aus liegen die umstrittenen Pläne derzeit allerdings auf Eis.
Wer übernimmt den Notdienst?
Von vielen Seiten lastet also Druck auf den Apotheken. Fragt man bei der Landesapothekerkammer (LAK) Baden-Württemberg nach, spricht die wenig überraschend von einem „besorgniserregenden Trend“, der besonders in ländlichen Regionen die wohnortnahe Versorgung mit Arzneimitteln gefährde.
Dabei wird schnell klar: Apotheken haben eine schwierige Doppelrolle: Einerseits müssen sie betriebswirtschaftlich arbeiten, andererseits haben sie einen staatlichen Auftrag, die Bevölkerung mit Arzneimitteln zu versorgen, was auch den Notdienst an Sonn- und Feiertagen beinhaltet, erklärt LAK-Präsident Martin Braun. Und wer soll das übernehmen, wenn es immer weniger Apotheken gibt? Wie weit sollen die Menschen fahren, wenn sie nachts wegen Durchfall oder Erkältung ein Medikament brauchen? Was tut, wer nicht mobil ist? Überhaupt, der direkte, persönliche Kontakt zum Kunden, den die Apotheken bieten, Beratung, Hilfe bei nicht lieferbaren Medikamenten oder auch nur ein paar nette Worte, wenn es dem Gegenüber schlecht geht – „Das kann kein Call-Center-Agent irgendwo auf der Welt, kein Automat, keine KI“, glaubt Braun. Und so entlaste man auch die Hausarztpraxen.
Der LAK-Präsident fordert ein Sofortprogramm für Apotheken, das ihre finanzielle Basis stärken soll. Durch einen Sockelbetrag für jede Apotheke als Teil der Daseinsvorsorge oder eine höhere Notdienstpauschale. Politik und Bevölkerung müssten ihre Sichtweise auf die Apotheken ändern. „Man muss überlegen, was es uns wert ist, gewisse Dienstleistungen vorzuhalten.“
Und seine Einschätzung zu dm? Braun seufzt. „Ein weiterer Sargnagel für die Apotheken.“ Aber: Juristisch sei gegen den Versandhandel nichts zu machen. Da helfe nur eine Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene, urteilt das baden-württembergische Sozialministerium. Das von Manne Lucha (Grüne) geführte Ministerium sieht zwar die Situation der Apotheken aktuell noch als „einigermaßen stabil“ an, erkennt aber Handlungsbedarf. Man halte eine Honorarerhöhung für notwendig und habe die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit den Beteiligten und den Ländern Regelungen zu treffen, um Apotheken in ihrer jetzigen Form dauerhaft in der Fläche zu erhalten und eine bestmögliche Arzneimittelversorgung sicherzustellen. Auch im Hinblick auf die „andauernden Lieferengpässe“.
Christina Braun von der Stadt-Apotheke in Dornhan will sich von all den Entwicklungen nicht einschüchtern lassen. Sie gibt stattdessen Gas. Sie ist breit aufgestellt. Das ist ihr wichtig, um attraktiv zu bleiben für die Kunden und zukunftsfähig. Neben gutem Service und Zwischenmenschlichem bietet ihre Apotheke einen Abholautomaten, Online-Shop, App und Chat. Braun versucht, so viele Medikamente wie möglich vorrätig zu haben und fehlt eins, wird es bis spätestens zum nächsten Tag geliefert. Ihrer Apotheke gehe es momentan noch gut, sagt Braun. Doch sie will aufmerksam machen auf die Missstände und die Menschen dazu animieren, die Apotheken zu nutzen. „Nur so können wir überleben.“ Susanne Ehmann