Im Gespräch mit Jérôme Müggler, Direktor der IHK Thurgau, haben wir gefragt, wie die Schweiz mit dem Lockdown umgeht und was die Eidgenossen zum Thema Grenzöffnungen sagen.
Die Schweiz ist ein kleines Land, umgeben von Frankreich, Italien, Österreich, Liechtenstein und Deutschland. Wie erleben die Schweizer die Grenzschließung, und was bedeutet sie für die Wirtschaft?
In der Tat befindet man sich in der Schweiz fast immer in einer Grenzregion. Deswegen sind die Grenzschließungen für die Menschen eine große Belastung. In allen Landesregionen sind Familien, Freunde und Paare gerade getrennt. Gemessen an der Pandemie sind das natürlich kleine Geschichten. Aber solche Trennungen sind nicht zu unterschätzen. Sie belasten die Menschen. Wirtschaftlich ist die Schweiz stark mit der EU verbunden, sowohl im Waren- als auch im Personenverkehr. Im vergangenen Jahr gingen knapp 52 Prozent der Exporte in den EU-Raum, davon 47 Prozent nach Deutschland. 63 Prozent der Importe kamen aus der EU und davon wiederum 50 Prozent entweder aus Deutschland oder Österreich. Das sind große Zahlen. Der Warenverkehr ist zwar nicht komplett unterbrochen, aber doch stark eingeschränkt. Eine gewisse Zufriedenheit herrscht sicher beim lokalen Lebensmittelhandel, da die Schweizer nun zu Hause einkaufen.
Welche Branchen sind in der Schweiz vom Lockdown besonders betroffen?
Das ist sicherlich der stationäre Detailhandel. Aber auch das Hotelwesen, die Gastronomie, das Eventgeschäft, der Tourismus und die Fitness-, Sport-, Freizeiteinrichtungen sowie Arztpraxen und Privatkliniken – eben all jene, die von den Zwangsschließungen betroffen sind beziehungsweise waren. Und natürlich die exportorientierten Unternehmen, die beispielsweise Zulieferer von deutschen Autoherstellern sind. Wenn dort das Fließband ins Stocken gerät oder gar stoppt, dann hat das sofort einen rückwirkenden Effekt.
Zur Person
Jérôme Müggler (39) ist seit Januar 2019 Direktor der IHK Thurgau. Zuvor war der studierte Geschichts- und Literaturwissenschaftler sieben Jahre in verschiedenen Funktionen bei dem Beratungsunternehmen KPMG in Zürich und in einer Thurgauer Kommunikationsagentur tätig. Der gebürtige Thurgauer lebt mit seiner Familie im Kanton Zürich.
In Deutschland haben Bund und Länder umfassende Hilfsprogramme für die Wirtschaft gestartet. Bei großen Unternehmen werden auch staatliche Beteiligungen in Betracht gezogen. Wie werden in der Schweiz die Unternehmen unterstützt?
Bereits eine Woche nach Beginn des Lockdown gab es Hilfspakete für die Wirtschaft. Ein wichtigstes Element neben der Kurzarbeit, wo über die Arbeitslosenversicherung ein Teil der Löhne abgesichert ist, sind die Notkredite in Höhe von rund 50 Milliarden Schweizer Franken. Der Staat übernimmt dabei bis zu einer gewissen Kredithöhe eine Bürgschaft von 100 Prozent. Diese Notkredite wurden zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen ziemlich gut genutzt. Ohne weitere Fragen haben die Unternehmen von ihrer Hausbank einen Kredit bis zu einer halben Million bekommen. Man muss sich das so vorstellen, dass man innerhalb von zwanzig Minuten mit einer halben Millionen Franken aus der Bank lief. Bei Krediten zwischen einer halben bis zwanzig Millionen Franken übernimmt die Eidgenossenschaft 85 Prozent der Bürgschaft; das Restrisiko trägt die Bank. Und dann gibt es noch eine Reihe von Spezialfällen, bei denen es um sehr viel mehr Geld geht. Ein Beispiel dafür sind die Fluggesellschaften Swiss und Edelweiss, die beide Tochtergesellschaften der Lufthansa sind. Staatliche Unterstützung wird es hierbei gegen Auflagen geben, aber Beteiligungen sind derzeit nicht geplant und werden auch nicht befürwortet.
Gibt es in der Schweiz schon einen Plan, wie ein Exit-Weg aus dem Lockdown aussehen könnte?
Die ersten Geschäfte wie Baumärkte und Gartencenter konnten schon Anfang Mai öffnen, ebenso Spitäler, Arztpraxen, Kosmetikstudios und Friseure, vorausgesetzt sie haben ein Hygienekonzept. Der Einzelhandel und die Möbelhäuser folgten am 11. Mai. Das führte davor natürlich zu Debatten: Warum dürfen kleinere Einkaufsläden und Märkte erst am 11. Mai öffnen und große Gartencenter früher? Das macht keinen Sinn. Voraussetzung sollte für alle ein Hygiene- und Schutzkonzept sein. Auch Restaurants und Hotels konnten ab dem 11. Mai wieder öffnen. Allerdings mit maximal vier Personen am Tisch und Abständen zwischen den Tischen. Zudem müssen Gäste vorläufig den Namen und die Telefonnummer für ein mögliches Tracking angeben. Am 8. Juni folgt die dritte Phase, in der auch die Mittel-, Berufs- und Hochschulen, Museen, Zoos und Bibliotheken wieder vollends öffnen dürfen. Ungewiss ist derzeit das Thema Grenzöffnung. Die Regierung ist zwar im Austausch mit der EU und den Nachbarländern, aber ein konkretes Datum gibt es nicht. Die IHKs St. Gallen-Appenzell und Thurgau haben die Forderung aufgestellt, dass der Bundesrat bald einen klaren Plan für Grenzöffnungen vorlegt. Wie ist die Stimmung innerhalb der EU?
Die nationalen Lagen und Befindlichkeiten sind in der EU ebenso heterogen wie die epidemiologischen Gegebenheiten. Einstimmige Entscheidungen sind in einer solchen Situation immer zeitverzögerte Entscheidungen. Ich denke deshalb, dass da, wo die Erfolge im Umgang mit der Krise und die Lebensverhältnisse ähnlich sind, die Grenzen schnell und bilateral geöffnet werden sollten. Wie sehen Sie das?
Genauso. Im Tessin und in gewissen Regionen in der Westschweiz sind die Fallzahlen höher, in vielen Deutschschweizer Kantonen glücklicherweise tiefer. Ich würde auch sagen, wir sollten zuerst die Grenzen dort öffnen, wo es aus gesundheitlicher Sicht vertretbar ist – dazu gehören die Grenzen zu Deutschland und Österreich. In anderen Regionen macht es eventuell Sinn, etwas länger zuzuwarten, bis die Fallzahlen beidseitig der Grenze wieder tiefer sind und Schutzkonzepte greifen. Wichtig ist aber an allen Grenzen, dass wir das Risiko einer zweiten Ansteckungswelle minimieren können.
Interview: Claudius Marx