Der Fachkräftemangel ist für die Unternehmen der Region der Risikofaktor Nummer eins. Demografie, Strukturwandel, Transformation und Digitalisierung verändern den Arbeitsmarkt in seinem Kern. Für die Fachkräfteallianzen Südlicher Oberrhein und Südwest ist Qualifizierung der Schlüssel, um gut durch diesen Strukturwandel zu kommen. Im Juni starteten sie die Kampagne „Südbaden qualifiziert“.
In den Bezirken der Agenturen für Arbeit Offenburg, Freiburg und Lörrach verfügen von rund 600.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 87.000 über keinen Berufsabschluss. Hier sehen die Fachkräfteallianzen Südlicher Oberrhein und Südwest, zu denen auch die IHK Südlicher Oberrhein gehört, enormes Potenzial zur Entwicklung von Fachkräften. „Aber uns geht es nicht nur darum, die Anzahl der Fachkräfte zu erhöhen. Wir Unternehmer erwarten gerade durch die Digitalisierung auch immer mehr von unseren Mitarbeitenden“, weiß IHK-Präsident Steffen Auer. „Der Begriff des lebenslangen Lernens ist eben nicht nur so dahergesagt.“
Zustimmung erhält er von Norbert Göbelsmann: „Aus unserer Sicht ist der Fachkräftemangel eine gefährliche Sache“, sagt der erste Bevollmächtigte der IG-Metall im Bezirk Freiburg/Lörrach. „Er kann der Grund sein, warum unsere Unternehmen hier nicht mehr wachsen.“ Inzwischen wechselten die Arbeitskräfte häufig horizontal, beispielsweise in der Automobilbranche aus der Herstellung von Teilen des Verbrenners zur Produktion von Erzeugnissen für den Elektromotor. „Wenn der Betrieb sich wandelt, müssen sich die Mitarbeitenden mitwandeln.“ Um Arbeitskräfte jedoch von einer Weiterbildung zu überzeugen, müssten die Unternehmen nach Ansicht von Göbelsmann einen klaren Pfad anbieten – neben der Qualifizierung nämlich auch eine Perspektive in der Firma.
„Ohne Ausbildung sind die Menschen deutlich schneller und länger in der Arbeitslosigkeit“, nennt Theresia Denzer-Urschel, seit Anfang Juni die Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Offenburg, eine weitere Motivation zur Qualifizierung. Dass es ohne Weiterbildung nicht geht, davon ist sie überzeugt: „Schauen wir doch auf uns selbst: Was mussten wir alles lernen, damit wir unseren Job heute noch machen können.“
Unterstützung kommt zudem vom Staat: mit dem Qualifizierungschancengesetz (QCG) und dem Arbeit-von-morgen-Gesetz gibt es laut Aussage von Andreas Finke, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Freiburg „das attraktivste Förderpaket in der Geschichte der Beschäftigtenqualifizierung“.
Zwei Betriebe, die die Förderung genutzt haben, sind der Getriebehersteller Neugart aus Kippenheim und das Reisebüro Wagener aus Müllheim. Bei Neugart wurde aus Timo Schick, der eigentlich Gas-Wasser-Installateur gelernt hat und bei dem Getriebehersteller Maschinenbediener war, nach einer einjährigen Qualifizierung zum Maschinen- und Anlagenführung mit IHK-Abschluss ein Einrichter. „Natürlich mit entsprechendem Vertrag und Vergütung“, wie Personalleiterin Jutta Maurer betont. Knapp ein Dutzend Mitarbeitende von Neugart haben bereits den gleichen Kurs wie Schick besucht – und den gleichen Aufstieg gemacht.
Im Reisebüro Wagener war es die Angestellte Tanja Frei, die sich während der durch die Coronapandemie bedingten 95-Prozent-Kurzarbeit auf die Suche nach einer Weiterbildung machte. Sie wollte mit ihrer Qualifikation ihren Arbeitgeber, bei dem sie bereits die Ausbildung absolviert hatte, unterstützen und entschied sich für den Onlinemarketingmanager mit Schwerpunkt Social Media. Chef Martin Heiler ist froh und dankbar, denn beim Blick in die Zukunft seines Reisebüros stellen sich ihm viele Fragen: „Kommt die große Transformation? Kommt das alte Geschäft zurück? Wie erreichen wir unsere Kundinnen und Kunden in Zukunft?“
Noch gibt es wenige Beispiele wie das von Timo Schick und Tanja Frei. Im vergangenen Jahr begannen im Kampagnengebiet lediglich 412 Beschäftigte eine Qualifizierung im Rahmen des Förderprogramms. 5.000 Betriebe haben die Verantwortlichen von „Südbaden qualifiziert“ nun angeschrieben, um die Programme bekannter zu machen und ihre Unterstützung anzubieten. IHK-Präsident Auer mit Nachdruck: „Wir brauchen die Fachkräfte. Die Digitalisierung wird den Bedarf vielleicht verändern, aber nicht reduzieren.“
naz