Wie sollen unsere Innenstädte in zehn Jahren aussehen? Mit dieser Frage haben sich der Konstanzer Einzelhandel, der Handelsverband Südbaden und die Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee in den vergangenen Wochen intensiv befasst. Sie reagieren damit auf tiefgreifende Veränderungen, die unsere Innenstädte schon heute als Folge der Digitalisierung erleben. „Der Onlinehandel bietet jedem Konsumenten eine nicht zu überbietende Produktvielfalt, eine einzigartige Markttransparenz, attraktive Preise und die Lieferung über Nacht, vielleicht demnächst am selben Tag“, sagt Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK. „Es wird schon bald nicht mehr notwendig sein, die eigenen vier Wände zu verlassen, um den Alltag zu organisieren. In die Stadt zu gehen, ist dann nur noch eine Option. Die entscheidende Frage ist also: Was macht die Stadt in Zukunft im Sinne des Wortes attraktiv?“ Der Konstanzer Handel ist sich in seiner Antwort auf diese Frage einig.
Er hat ein Zukunftspapier verfasst, das die Richtung vorgeben kann, wie Konstanz auch in Zukunft eine lebendige, vielfältige und prosperierende Innenstadt haben kann. „Dazu braucht es ein ganzheitliches Konzept, das nicht nur den Handel betrachtet, sondern auch die Gastronomie, die Hotellerie, das kulturelle Angebot, den Verkehr und vieles andere mehr. Alle Akteure müssen zusammenwirken und dabei von den Bedürfnissen der Menschen, der Besucher wie der Bewohner ausgehen. Die Aufenthaltsqualität wird zum entscheidenden Parameter. „Der Aufenthalt in der Stadt muss mindestens um so viel attraktiver werden als das Onlineshopping zu Hause bequemer ist“, sagt Claudius Marx. Dann habe die Konstanzer Innenstadt nicht nur die besten Chancen, dem Schicksal der Verödung, das so vielen deutschen Innenstädten drohe, zu entgehen, sondern nachgerade zu einem Beispiel gelungener Innenstadtentwicklung zu werden.
hw
Auszüge aus dem Zukunftspapier
Prämissen
- Die Stadt im Allgemeinen und ihre Innenstadt im Besonderen sind einer der tragenden Pfeiler für eine intakte, lebenswerte, stabile und prosperierende Gesellschaft: Ohne lebendige Städte kein lebendiger Staat.
- Bedeutung und Funktion einer Stadt sind nur im Kontext mit ihrem Umland zu verstehen. Stadt ist per se immer Zentrum. Zentrum macht keinen Sinn ohne Peripherie: Eine Stadt ist nur so lange Stadt, wie sie Besucher aus dem Umland anzieht: Pendler, Kunden, Gäste, Neubürger ….
- Die kulturelle, soziale, politische und ökonomische Vitalität einer Stadt ist kein Selbstzweck und geht weit über das Partikularinteresse einzelner Gruppen oder Branchen hinaus. Sie liegt im höchsten gesellschaftlichen Gesamtinteresse.
Herausforderungen
- Veränderte Lebensgewohnheiten, die Digitalisierung elementarer Prozesse des Alltags und eine defizitäre Organisation individueller Mobilität bedrohen aktuell sämtliche Funktionen der Stadt.
- Nahezu alle Versorgungsbeziehungen lassen sich schon heute „stadtfern“ organisieren, nicht selten mit geringeren Transaktionskosten und höherem Conveniencefaktor.
Bei ungehindertem Verlauf läuft die Stadt Gefahr, von einem Zentrum gesellschaftlichen Lebens zu einer bloßen Ansammlung von Behausungen, Produktionsstätten und Verkehrsadern zu erodieren. Sie verliert das, was sie als Stadt ausmacht – ihre gesellschaftliche, politische, soziale und ökonomische Zentralität. - Es gilt deshalb, die Stadt für Jung und Alt funktional als einen Ort des Austausches im weitesten Sinne – kulturell, politisch, sozial, ökonomisch – zu erhalten und unter veränderten Rahmenbedingungen neu zu erfinden.
Antworten
- Die entscheidende Dimension ist die Aufenthaltsqualität: Wohnen und Arbeiten in der Stadt, Einkaufen und Flanieren, die Attraktivität der Hotel- und Gastronomieszene, die Wahrnehmung kultureller Angebote, Schauen und Shoppen, die Begegnung von Menschen mit Spaß und Freude.
- Die Aufenthaltsqualität muss mindestens so viel attraktiver sein, wie es unbequemer ist, ihr fern zu bleiben.
- Daraus folgt: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Er wird die Stadt immer und nur besuchen, beleben, bevölkern und bereichern, wenn er sich dabei wohler fühlt als anderswo.
- Die aktuell größte Baustelle in diesem Bemühen ist die Mobilität der Besucher einer Stadt. Es geht darum, diese Mobilität so zu gestalten, dass ein Maximum an Bequemlichkeit erreicht wird, ohne eben dadurch Abstriche bei der Aufenthaltsqualität zu machen.
- Klimaziele, Stadtentwicklung und Nutzererwartungen stehen nicht im Widerspruch, sondern im Kontext: Eine emissionsarme Innenstadt verspricht zugleich die höchste Aufenthaltsqualität, wenn und solange nur ihre Erreichbarkeit intelligent und komfortabel organisiert wird.
Unsere Vision
- Wir steuern den Verkehr an den Stadtgrenzen, nicht den Besucher: Den Individualverkehr intelligent lenken, den Besucher herzlich empfangen – das ist unsere Maxime. Die Mobilitätspunkte am Rande der Innenstadt sind die modernen Nachfolger der Stadttore.
- Die Innenstadt besticht durch ein integriertes Angebot von Handel, Gastronomie, Hotellerie, Dienstleistungen und Kultur.
- Die öffentlichen und privaten Räume sind ganz auf die Bedürfnisse der Menschen – Bewohner wie Besucher – ausgerichtet und ausgestaltet, von der Begrünung über Straßencafés bis zur teilweise transparenten Überdachung des öffentlichen Raumes und Ähnlichem; die Stadt wird zur „zweiten Wohnstube“ der Menschen.
- Die Stadt umsorgt ihre Besucher „vom Stadttor bis zum Stadttor“ mit innovativen Dienstleistungen – etwa: Einkäufe müssen nicht getragen werden, Kosten der „Micromobilität“ werden minimiert, emissionsminderndes Verhalten wird belohnt.
Die lange Version des Zukunftspapiers gibt es unter https://www.konstanz.ihk.de/servicemarken/presse/