Immer mehr Berichtspflichten, immer mehr Dokumentationszwang: Unser Normenkontrollratschef Dieter Salomon über den deutschen Fimmel für Einzelfallgerechtigkeit, die überzogene Regelungswut des Staates und warum ihm vereinfachte Beschaffungsrichtlinien Hoffnung geben.
Seit einem Jahr ist Freiburgs IHK-Hauptgeschäftsführer Dieter Salomon der Vorsitzende des baden-württembergischen Normenkontrollrats – dessen Name eigentlich schon klingt wie manifestierte Bürokratie aber genau das Gegenteil zum Ausdruck bringen soll. Im Interview mit WIS-Autorin Doris Geiger zieht Salomon nicht nur Bilanz, sondern blickt auch auf das aktuelle Dickschiff, dem sich das Gremium widmet.
Die Landesregierung ließ Ihr Gremium 2023 nach dessen erster Amtszeit fast neun Monate pausieren. Jetzt sorgte Ministerpräsident Kretschmann für Schlagzeilen, weil er das geplante Gleichbehandlungsgesetz auf Eis legen wollte und kurz darauf wieder einen Rückzieher machte. Sie haben das Gesetzesvorhaben von Anfang an kritisiert. Wieviel Feuer haben Sie ihm gegeben?
Persönlich gar keines – weil ich ihn seit meinem Amtsantritt gar nicht getroffen habe. Aber natürlich hat der Normenkontrollrat früh darauf hingewiesen, dass dieses Gesetz überflüssig und in dieser Form schädlich ist. Was mit dem Gleichbehandlungsgesetz geregelt werden soll, ist längst geregelt – im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und im Grundgesetz. Auf Landesebene wollte man das Geregelte nochmals regeln. Würde es umgesetzt, wäre das fatal, denn es brächte eine Beweislastumkehr: Jeder Lehrer, jeder Mitarbeitende einer Uni-Klinik oder einer IHK und auch jeder Schornsteinfeger, gegen den der Vorwurf einer Diskriminierung erhoben wird, müsste dann beweisen, dass der nicht stimmt. Die daraus resultierende Dokumentationsflut, die nötig wäre, um sich zu schützen, wäre riesig. Der BWIHK und der Normenkontrollrat sehen in diesem Gesetz deshalb ein Misstrauensvotum gegenüber den Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
Was ist das nächste große Thema, das Sie im Normenkontrollrat angehen?
Das ist ein echtes Dickschiff: Das Land bietet eine Fülle von Förderprogrammen, für die niemand den Gesamtüberblick hat. Man denkt eigentlich, man sollte auf Knopfdruck ermitteln können, wie viele Förderprogramme das Land anbietet und wie viel Geld wo hineinfließt. Ist aber nicht so. Nichts ist digitalisiert. Man kann Anträge stellen, die dann in den einzelnen Ministerien wieder auf Papier ausgedruckt werden. Anders als bei Ihrem DHL-Paket, das Sie kontinuierlich verfolgen können, läuft alles im Verborgenen. Hier wollen wir Transparenz schaffen, weil wir vermuten, dass doppelt und dreifach gefördert wird.
Wie wollen Sie das hinkriegen?
Der derzeitige Normenkontrollrat ist mit Menschen besetzt, die von Wirtschaft wirklich Ahnung haben. Zum Beispiel meine IHK-Hauptgeschäftsführungs-Kollegin in Stuttgart, Susanne Herre. Sie hatte die Idee, dass wir mit Hilfe künstlicher Intelligenz die Anzahl der Programme ermitteln, wie sie aufgebaut sind und wieviel Geld da hineinfließt. Bei den geschätzten 320 Förderprogrammen weiß niemand, wer was fördert, niemand evaluiert die Maßnahmen und wir gehen davon aus, dass es Milliarden von Euro sind, die sich da irgendwie durch den Landeshaushalt bewegen. Hier wäre Transparenz angebracht.
Wenn Bürokratie abgeräumt werden soll, sollte man auch verstanden haben, wie der Bürokratie-Irrsinn entstanden ist. Worin sehen Sie die Ursachen?
Ich sehe das als eine Eskalation des Misstrauens zwischen Staat und Bürgern beziehungsweise Staat und Unternehmen. Das hat sich über Jahrzehnte aufgebaut. In meinen Augen hängt das mit unserem Fimmel für Einzelfallgerechtigkeit zusammen. Der führt zu immer mehr gesetzlichen Verästelungen. Das hat uns zehntausende von Verordnungen und Gesetzen beschert, womit der Staat einfach den Bogen überspannt hat.
Lässt sich ein überspannter Bogen wieder funktional machen?
Im Grunde kann man solch ein gewachsenes System, in das man Schneisen schlagen müsste, nicht wieder auf null bringen. Ministerpräsident Kretschmann spricht von einem Brombeergestrüpp.
Ich würde sagen: Das kann man gar nicht mehr zurechtschneiden, man müsste es eigentlich abfackeln. Wirtschaftsminister Habeck will die Berichtspflichten der Unternehmen mit der Kettensäge wegbolzen, wie er wortwörtlich gesagt hat. Aber zurück zur Realität: Der Normenkontrollrat Baden-Württemberg ist lediglich ein Beratungsgremium der Landesregierung.
Weshalb Ihnen Freunde ja auch abgeraten hatten, dessen Vorsitz zu übernehmen…
Stimmt. Ich hätte es auch nicht getan, wenn die Landesregierung beziehungsweise der Ministerpräsident selbst nicht klar und deutlich gesagt hätten, dass sie den Bürokratieabbau voranbringen wollen.
Ihr größter Erfolg in den vergangenen zwölf Monaten?
Der Normenkontrollrat hat sicherlich mitgewirkt, den ersten Entwurf für das Landesmobilitätsgesetz – in dem schon wieder mehr als ein Dutzend Melde-, Berichts- und Dokumentationspflichten geplant waren – zu verbessern. Das Kabinett hat jetzt eine deutlich bessere Variante verabschiedet.
Und wir ordnen uns auch zu, bei der positiven Änderung der Beschaffungsrichtlinien mitgewirkt zu haben. Die öffentliche Hand kann nun Aufträge bis 100.000 Euro direkt vergeben. Das betrifft etwa 80 bis 90 Prozent aller öffentlichen Vergaben und ist ein Riesenfortschritt. Diese Art von Einfluss darf sich verstärken.
Welche Rolle spielt hier eine Industrie- und Handelskammer?
Die Aufgabe der Kammern ist es, bürokratische Hemmnisse kontinuierlich zu beklagen und den Finger in die Wunde zu legen. Mit Suanne Herre und mir ist die Wirtschaft im Normenkontrollrat nun stärker vertreten, und wir sorgen für mehr Sachverstand.
Das war auch der Grund dafür, dass das Präsidium der IHK Südlicher Oberrhein es mir ermöglicht hat, dieses Ehrenamt anzunehmen – in der Hoffnung, dass die Wirtschaft davon profitiert.
Gibt es so etwas wie gute Seiten an der Bürokratie?
Ich berufe mich an dieser Stelle gerne auf den Soziologen und Nationalökonomen Max Weber, der schon vor mehr als hundert Jahren Bürokratie verstanden hat als funktionierende Verwaltung.
Im Gegensatz zur Willkürherrschaft im feudalen Staat sorgt der demokratische Rechtsstaat für Gleichheit vor dem Gesetz.