Veränderungen unserer Zeit wie Klimawandel und Digitalisierung sowie die Frage, ob unsere alte liberale Werteordnung die richtigen Antworten dafür hat: Darüber sprachen Ende Januar IHK-Präsident Thomas Conrady und der Ehrengast Udo Di Fabio vor rund 500 Gästen aus Wirtschaft und Gesellschaft beim Neujahrsempfang der Kammer in der Schopfheimer Stadthalle.
Kürzlich habe er in einer Diskussionsrunde zum Thema Klimawandel gesessen und dabei von einem anderen Teilnehmer gehört: „Das Problem kann nicht von Demokratien gelöst werden, dafür braucht es eine Diktatur.“ Udo Di Fabio zitierte diese Begegnung als ein Beispiel dafür, dass die westliche Werteordnung – lange Zeit allenfalls ein Thema für langweilige Sonntagsreden – neuerdings infrage gestellt wird. Ein anderes: die Konfrontation mit künstlicher Intelligenz. Wie soll etwa ein autonomes Fahrzeug im Fall einer unvermeidlichen Kollision mit Menschen entscheiden? Mit dieser Frage befasste sich vor einiger Zeit eine Ethikkommission, die der ehemalige Verfassungsrichter Di Fabio leitete. Die Ethikexperten entschieden, dass sich diese Frage nicht entscheiden lässt, weil eine etwaige Rangfolge nicht mit der Menschenwürde vereinbar sei. Generell aber bewerteten sie autonomes Fahren positiv, zumal es der Sicherheit diene.
„Unsere Enkel werden nicht verstehen, dass wir damals vor dem Internet der Dinge Angst hatten – vor den vielen Tausend Verkehrsunfällen aber nicht“, hatte zuvor schon IHK-Präsident Thomas Conrady den Gästen des Neujahrsempfangs in seiner Rede vor Augen geführt und dafür plädiert, den Wandel positiv zu sehen. Die Veränderung schreite rasend schnell voran, es sei nutzlos, sie zu ignorieren. Stattdessen müsse man die sich daraus ergebenden Chancen nutzen. „Veränderungsintelligenz“ nannte Conrady das. Er forderte allerdings auch, Ruhe zu bewahren und „Dinge nicht aufzugeben, bis wir sie durch etwas Besseres ersetzt haben“.
Dass China in Sachen Digitalisierung viele europäische Länder alt aussehen lässt, dass der Klimawandel schneller voranschreitet, als Gesetzespakete darauf reagieren können, und dass wir heute kaum wissen, wie wir morgen leben, arbeiten und uns fortbewegen: Das alles führt zu der Frage, mit der sich Verfassungsrechtler Di Fabio in seiner klugen und kurzweiligen Gastrede beschäftigte: Kann die westliche Demokratie die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern? Lange Zeit galt unsere Vorstellung von individueller Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten als Spitze eines langen Zivilisationsprozesses, erläuterte Di Fabio. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sah es sogar so aus, als gebe es keine Konkurrenz mehr zur westlichen Werteordnung. Doch spätestens die Finanzkrise habe ihre Verwundbarkeit gezeigt. Heute sei sie in der Defensive. „Es kehrt etwas wieder, das wir für vergangen hielten“, sagte der promovierte Jurist und Sozialwissenschaftler. Autokratische und diktatorische Hegemonialmächte wie Russland und die Türkei machten anderen Staaten Vorgaben. Und auch innerhalb des Westens und der westlichen Demokratien zeigten sich die Veränderungen. „Die ehemaligen Signatarmächte USA und UK drehen uns den Rücken zu, verlassen die EU, haben kein Interesse mehr an der Nato“, konstatierte Di Fabio.
Gleichzeitig wirkten die Gesellschaften in den westlichen Demokratien gespalten, fragmentiert und zwar nicht im traditionellen Sinne, nämlich der Existenz mehrerer Parteien. Denn die hätten früher auf derselben öffentlichen Bühne gespielt. Heute dagegen bewegten sich die Menschen in unterschiedlichen Bewertungs- und Erlebnisräumen, die sich gegenseitig nicht mehr verstehen. Der Zusammenhalt schwinde, die Gesellschaften würden volatiler, alle Organisationen, ob Parteien, Gewerkschaften, der ADAC oder die Kirche, verlieren Mitglieder. Was tun? „Unser Wertesystem revitalisieren“, lautete Di Fabios Antwort, und das wiederum gehe vor allem über Erziehung und Bildung. „Dahin bewegt sich jede Debatte zurück.“
Auch auf die Rolle der Wirtschaft für die Demokratie richtete der Juraprofessor seinen Blick, denn mit dem Erfolg digitaler Konzerne sei eine wirtschaftliche Oligopolbildung im Gange, die wir nicht ignorieren sollten. „Die Realwirtschaft, die Deutschland so stark gemacht hat, ist unter Veränderungsdruck“, sagte Di Fabio und empfahl, nicht mit Verboten, sondern mit intelligenten, technologieoffenen Innovationen darauf zu reagieren. „Wenn wir die Zukunft gestalten wollen, müssen wir das mit unserem Potenzial tun.“ Der Staat, die Demokratie, müsse die nötigen Investitionen vor allem in Infrastrukturen und in Bildung tätigen – strategisch durchdacht und nicht aufkommenden Stimmungen folgend. Trotz aller Kritik kam Udo Di Fabio zu einem optimistischen Ausblick: Wir lebten in einem „sehr guten Land“ mit einer funktionierenden rechts- und sozialstaatlichen Ordnung, in Frieden und Wohlstand. Sein Rezept, damit das so bleibt und wir die Herausforderungen meistern: „Wir werden erfolgreich sein, wenn wir die soziale Marktwirtschaft ins 21. Jahrhundert stellen.“
Text: kat, Bilder: Herbert Weniger