Konstanz. Fülle statt Verzicht. Selbstverwirklichung statt Einheitsbrei. Schlemmen statt Schmalhans Küchenmeister. Wer das Konstanzer Voglhaus betritt, spürt sofort, wohin hier die Reise geht. Denn dem Klischee von Askese trotzt dieses Café mit pflanzenbasierter Speisekarte, regionalen Zutaten in Bioqualität und verwirklichtem Klimaschutz auf ganzer Linie. „Es funktioniert bei uns exzellent“, sagt Gründerin und Chefin Martina Vogl. Mit Eloquenz, Leidenschaft und 30 Mitarbeitern widerlegt sie alle Einwände, vegane Biogastronomie sei nicht wirtschaftlich zu betreiben. Und das seit 22 Jahren. Die Schlange reicht oft von der Theke hinaus bis auf die Wessenbergstraße, der Außenbereich ist meist komplett besetzt. Wem die Inspiration fehlt, nachhaltig und fleischarm zu konsumieren, ist bei ihr in der Konstanzer Altstadt an der richtigen Adresse.
Zum Gesprächstermin empfängt Martina Vogl im Kaufhaus, ihrem zweiten unternehmerischen Standbein: Feinkost und Wohnacces-soires auf 100 Quadratmetern, unmittelbar neben dem Café. Stevie Wonder singt angenehm temperiert auf die Kunden herab. Und wenn der Gast den Kaffee mit Hafermilch bestellt, zaubert‘s der Mitarbeiterin hinterm Tresen ein Lächeln ins Gesicht. Denn: Die Produktion von Sojamilch setzt im Vergleich zu Kuhmilch nur ein Viertel des Treibhausgases CO2 frei, wie in der Speisekarte zu lesen ist. Und schon sind wir mitten im Thema. Martina Vogl schaut über den Tellerrand hinaus. Sie hinterfragt die Herkunft ihrer Produkte, lehnt Massentierhaltung konsequent ab, verbessert hartnäckig die CO2-Bilanz. Und sie hinterlegt dies mit Zahlen. Eaternity, ein Start-up aus Zürich, berechnet fortlaufend den Verbrauch des Voglhauses und liefert entsprechende Auswertungen.
Nachhaltige, gesunde Ernährung ist mein Leib- und Magenthema“, sagt die 61-Jährige. „Ein Drittel der Klimagase gehen weltweit auf die Nahrungsmittelproduktion zurück.“ Ende des Jahres möchte sie klimapositiv sein.
Bevor Martina Vogl eigene Geschäftsideen umsetzen konnte, hat sie hautnah erfahren, wie sie es nicht machen wollte. Als nach dem Studium die erste Lehrerschwemme einsetzte, entschied sie sich statt eines Referendariats dafür, eine Franchisefiliale für Kosmetikprodukte zu etablieren – an der Stelle, an der heute das Café steht. Aber: Auf Dauer ein beliebig austauschbares Mosaiksteinchen in den von Handelsketten dominierten Fußgängerzonen zu sein, das wollte sie nicht. „Das ging zu sehr Richtung Mainstream. Nach fünf Jahren wurde mir das langweilig.“
Also betrat sie Neuland und eröffnete in den Jahrtausendwechsel hinein ein Geschäft für Wohnaccessoires, Caféhaus-Bewirtung inklusive. Wohlfühlatmosphäre im ehemaligen Lagerraum bei Kaffee und Kuchen. 1999 war so etwas neu: „Für so ein Mischkonzept gab es keine Blaupause.“ Ohne Risiko war es nicht, Tische und Stühle zwischen die Waren zu platzieren. „Wenn der erste Gast reinkommt und sich totlacht, schließen wir“, dachte Vogl damals. Es kam anders.
Ein Ehepaar, das ihr neues Konzept spontan lobte, hätte sie vor Freude „am liebsten in den Arm genommen“. Derart beflügelt, ließ die Chefin den Franchise-Vertrag mit dem Kosmetikanbieter auslaufen und eröffnete zusätzlich zum Kaufhaus das Voglhaus-Café mit Selbstbedienung: „Ich nehme meinen Kaffee von der Theke, setze mich und habe meine Ruhe“, argumentiert die Unternehmerin. „Und ich muss nicht ständig nach der Bedienung schauen, wenn ich bestellen oder bezahlen möchte.“
Qualitativ sehr guten Kaffee anzubieten, den Ruf hatte sie sich schnell erarbeitet. „Gastronomie mit geistigem Tiefgang“, adelte ein Laudator ihr Angebot bei einer ihrer zahlreichen Auszeichnungen. Was damit gemeint ist, erzählen Postkarten, Flyer und die Speisekarte: Dass Tierschutz und Genuss vereinbar sind. Dass man Gewohnheiten hinterfragen kann. Dass das Gemeinwohl im Mittelpunkt der Ökonomie steht, nicht Expansion und Gewinne. Wer nach ihren Beweggründen fragt, dem drückt sie den Text „Ein freier Mensch“ von Albert Schweitzer in die Hand. „Ich will unter keinen Umständen ein Allerweltsmensch sein“, heißt es dort. Das passt. Man nimmt ihr ab, was sie sagt. Zuletzt gab es dafür im Frühjahr den zweiten Platz beim „WeltverbEsserer-Wettbewerb“ für nachhaltige Restaurants.
Lag bei so viel Gestaltungsdrang nicht auch einmal der Wunsch nahe, sich politisch zu engagieren? Martina Vogl schüttelt den Kopf und erzählt von ihrem Engagement im Treffpunkt Konstanz, einem Zusammenschluss regionaler Händler. „Ich bin in solchen Gremien nicht gut“, hat sie festgestellt. „Ich sprudele über vor Ideen und möchte sie umsetzen, für Diplomatie fehlt mir der lange Atem.“ Zudem ist sie nicht für jeden Marketingansatz zu haben. Verkaufsoffener Sonntag? Ein weiteres Parkhaus? Kunden etwa aus Winterthur nach Konstanz locken? Kann sie nicht unterstützen. Sie freue sich über jeden Schweizer, der ihr Geschäft betritt. Aber spezielle Sonderangebote und Gutscheine würden nur lange Autofahrten mit hohem Spritverbrauch verursachen und die Städte in der Schweiz schwächen. Gerne ohne sie.
Hat sie denn Luft für Dinge jenseits des Voglhauses? Hat sie. Sie erwähnt ihre Hunde, viele Reisen nach Südfrankreich und Griechenland gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten oder mit Freunden. Doch schon bei der Frage nach ihren kulturellen Vorlieben („klassische Klaviermusik“) kommt wieder das Voglhaus ins Spiel. Denn das war häufig Schauplatz für Lesungen und Konzerte. Ein kleiner, aber feiner Aufführungsort, für den Martina Vogl nach der Coronakrise bald auch wieder Events plant. Langweilig wird es nicht.
bb