Oberndorf. Jungs spielen Fußball, Mädels nicht. Nach dem Essen räumen Mütter und Schwestern den Tisch ab, die Männer bleiben sitzen. In den Kneipen hocken Kerle an Stammtischen – und bestimmen dort die Agenda, wie und worüber gesprochen wird. Aber was machen Frauen? Sind in vielerlei Hinsicht unsichtbar. Für viele Bereiche unserer Gesellschaft ist eine solche Alltagsbeschreibung sicher überholt. Für Yvonne Hägle war dies in den 1990er-Jahren ein Teil ihrer Lebenswirklichkeit dort, wo sie aufgewachsen ist – in Beffendorf, einem 1.000-Einwohner-Dorf im Landkreis Rottweil.
„Ich hatte schon immer einen großen Gerechtigkeitssinn“, begründet die 32-Jährige, weshalb sie schon als Jugendliche tradierte gesellschaftliche Muster hinterfragt hat – statt sie hinzunehmen. Ein Beispiel: der örtliche Fußballverein. Ihr Vater war dort ehrenamtlich im Vorstand aktiv, und nachdem Tochter Yvonne fragte, weshalb dort keine Mädchen kickten, musste der Papa einen Trainer für eine erste Mädchen-Mannschaft organisieren. Das hatte er ihr versprochen für den Fall, dass sie zehn Namen interessierter Spielerinnen aufschreiben konnte. Die hatte sie schnell zusammen.
„Einige Dinge sind in unserer Gesellschaft einfach ungerecht“, sagt sie und erklärt damit ihre Motivation, auch heute, im beruflichen Umfeld etwas zu bewegen. Als freiberufliche Diversity-Managerin hilft sie ihren Kunden, unbewusste Denkmuster aufzuspüren, Potenziale zu heben, die ohne ein Bewusstsein für mehr Chancengleichheit niemals zum Tragen kämen.
Klingt abstrakt? Konkret bedeutet Diversity Management, mehr Vielfalt in Unternehmen zu ermöglichen und aktiv zu fördern. Yvonne Hägle erklärt es mit Hilfe eines Dreiklangs: Wer zur Kenntnis nimmt, dass Menschen nicht gleich sind in ihren individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, Lebensstilen oder -entwürfen (Vielfalt), sie daher unterschiedliche Unterstützung benötigen (Chancengerechtigkeit), damit individuell gefördert und so besser integriert werden können (Inklusion), erhöht ganz handfest seine Erfolgschancen. Yvonne Hägle ist überzeugt: „Die Unternehmen kommen nicht dran vorbei, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es gibt den Fachkräftemangel, viele Belegschaften werden älter.“ Deshalb ist dafür nun auch gemeinsam mit der Transformationsberatung Evolving ein Workshopkonzept zu „Generationsübergreifendem Teambuilding“ entstanden.
Klar vorbestimmt war eine Laufbahn als Beraterin nach Schule und Abitur nicht. „Ich war die Erste in meiner Familie, die studieren konnte“, erinnert sie sich. Sozialpädagogik, damit hatte sie geliebäugelt, entschied sich aber für den trinationalen Studiengang International Business Management an der Dualen Hochschule Lörrach. Erste Jobs führten sie dann in die Automobilbranche. Dort entdeckte sie ihre Leidenschaft, mit Menschen zu arbeiten und individuell ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Berufsbegleitend ließ sie sich bei einem Nürnberger Institut zur Diversity Managerin ausbilden, führte Trainings im Unternehmen ein, setzte das in der Theorie erlernte in die Praxis um. So förderte sie in Übungen und Rollenspielen die Sensibilität junger Kollegen für ihr Thema: Wie fühlt es sich an, nicht privilegiert zu sein? Welche unbewussten Denkmuster beeinflussen Personalentscheidungen? Wie befreiend mag es für Menschen sein, wenn ihre Persönlichkeit endlich akzeptiert wird und sie sich nicht verstellen müssen?
Den Sprung ins kalte Wasser der Selbstständigkeit wagte sie im Oktober 2022. Seitdem schärft sie ihr Profil als Expertin für Diversity Management, nutzt digitale Netzwerke, schreibt Blogbeiträge, bietet Workshops an, hält Vorträge. Enorm profitiert hat sie von der Gründergarage der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg. Ihr Ziel für die nächsten Jahre: Vorankommen, von ihrer Freiberuflichkeit leben können. „Ich habe immer Menschen bewundert, die selbstständig arbeiten“, erklärt Hägle und möchte dies für sich verstetigen.
Entspannung bekommt sie über Yoga-Übungen und über ihre Laufleidenschaft, die sie mit ihrem Mann und ihrer Schwester teilt. Einen Halbmarathon hat sie in Berlin 2021 absolviert, weitere sollen folgen. Viel Freude macht der „schwäbischen Frohnatur“, wie Hägle sich auf ihrer Homepage bezeichnet, auch das „Feministische Dorfgeflüster“ – eine Plattform für feministisches Lernen und Austauschen im ländlichen Raum. Hier schließt sich ein Kreis: „Ich möchte dazu beitragen, dass ALLE Menschen sich in unserer Region wohl und wertgeschätzt fühlen“, beschreibt Yvonne Hägle dort ihre Ziele.
Wer in bestehenden Vereinen und Gruppen nicht über seine oder ihre Themen sprechen konnte, kann es vielleicht hier. Das Interesse ist da: Nach der Vereinsgründung Ende 2022 hat der Verein bereits 30 Mitglieder. In der WhatsApp-Gruppe zum Austausch und gemeinsamen Lernen sind sogar 150 Personen. Sehr viel mehr als die zehn Fußballerinnen, die sie als Jugendliche für den Trainer zusammengetrommelt hat.
Benedikt Brüne