Freiburg. Streiten ja, Pöbeln nein. Argumentieren: ein Muss. Den Gegner persönlich herabwürdigen: ein No-Go. Doch wo ist die Grenze? Der Ton in vielen öffentlichen Debatten ist rau geworden. Was ist erlaubt, was nicht? Für Betroffene ist das nicht immer so leicht zu beurteilen. Klar ist: Das in Social-Media-Kanälen weit verbreitete Phänomen Hatespeech zielt auf die Abwertung des Gegenübers. Das hinterlässt Spuren: „Jeder Zweite in Deutschland hat Angst, sich öffentlich zu äußern“, sagt die 36-jährige Freiburger Gründerin Sara Egetemeyr. Gemeinsam mit Co-Founder Jonas Al-Nemri baut sie zurzeit ein Unternehmen auf, das vielen eine Hilfestellung werden kann, die sich im Internet nicht mehr ungestraft attackieren lassen wollen.
Penemue heißt der neue Stern am Freiburger Start-up-Himmel. Im Mittelpunkt steht ein Algorithmus, der justiziable Äußerungen zum Beispiel in Social Media sehr viel schneller identifiziert, als juristische Laien dies können: Nutzer können Politiker sein, Profisportler oder auch Journalisten. Auf der Homepage gibt es eine Demo-Version: Wer es ausprobieren möchte, kopiert einen Text hinein und erhält eine Bewertung. Das Tool funktioniert in 89 Sprachen. „Man kann alles eingeben, auch Emojis“, erklärt Sara Egetemeyr, lächelt und nippt am Cappuccino. „Wir analysieren und moderieren für Kunden deren Social-Media-Chats und Direktnachrichten auf bestimmte Kategorien hin“, erklärt sie das Geschäftsmodell. Betroffenen nimmt das viel Arbeit ab.
„Penemue“, erklärt sie, sei eine aus dem Hebräischen stammende mythologische Gestalt. „Für die Kunden verstehen wir sie als eine Art digitalen Schutzengel“, so Sara Egetemeyr. Ein Claim des Start-ups lautet: „Artificial intelligence to protect democracies“ – Künstliche Intelligenz zum Schutz von Demokratien. Klingt hochtrabend? Ist es keineswegs, denn auch wenn Zehntausende auf den vielen Kundgebungen zuletzt ihre Sorge um die Demokratie geäußert haben: Das Gemeinwesen kommt unter Druck, je weniger Bürger sichtbar an der öffentlichen Debatte teilnehmen.
Dass besonders Frauen sich vor diesem Hintergrund schwertun, sich öffentlich zu exponieren, weiß Sara Egetemeyr sehr genau. Gemeinsam mit einer Partnerin hat sie 2019 den Verein Futur F aus der Taufe gehoben, eine Organisation, die sich für Gleichberechtigung einsetzt – unter anderem mit einer Gründungsberatung für Frauen. „Das gab es damals in Freiburg noch nicht.“ Dabei hat sie vieles gelernt, was jetzt beim Aufbau von Penemue nützlich ist. „Eine große Finanzierung an Land zu ziehen, das hab ich mir letztlich bei Futur F angeeignet.“ So hat sie aus verschiedenen Fördertöpfen 270.000 Euro eingesammelt – von der EU, dem Land Baden-Württemberg, auch die Stadt Freiburg und private Geldgeber haben ihre Idee unterstützt.
Wer an dieser Stelle schon denkt, Sara Egetemeyr hätte in jungen Jahren bereits viel auf die Beine gestellt, darf wissen: Das war längst nicht alles. Ihr Lebenslauf, zu dem auch drei Kinder gehören, ist prall gefüllt. Geboren wird sie in Stuttgart, wächst aber im Ruhrgebiet auf. Nach einer Ausbildung zur Schneiderin geht es zum BWL-Studium nach Bonn, später an die Fernuni Hagen. Kulturwissenschaften, Schwerpunkt Philosophie. 2015 zieht die junge Familie aus beruflichen Gründen nach Freiburg.
Ruhrpott, Rheinland, Breisgau. Ein Kulturschock? „Nö, mit den Kindern ist es hier ganz lebenswert.“ Zudem hat Egetemeyr für die katholische Kirche in Zürich ein Kulturprogramm für junge Erwachsene entwickelt und später auch die Teamleitung übernommen. Drei Jahre pendelt sie zwischen Freiburg und Zürich.
Es folgen „einige unterirdische Erfahrungen“ als Mutter auf Jobsuche. „Ach, Sie haben drei Kinder? Ja, dann geht das nicht.“ So oder so ähnlich enden nicht wenige Gespräche. „Dann mach ich halt etwas eigenes“, sagt sie sich und gründet den Future F.
Vom Vorstand ist sie kürzlich in den Beirat gewechselt, um Kapazitäten für Penemue zu schaffen. „Beides gleichzeitig, das funktioniert nicht.“
Es gibt wenige Gründerinnen, hat sie erkannt. „Insbesondere Frauen – von Gründerinnen bis Wissenschaftlerinnen – scheuen sich aufgrund der negativen Resonanz, online sichtbar zu werden.“ Gemeinsam mit Jonas Al-Nemri, den sie als Speaker über die Vereinbarkeit von Familie und Gründung eingeladen hatte, bringt sie nun den digitalen Schutzengel an den Start. Großer Knackpunkt ist die Finanzierung. Es sei leichter, im Ausland Risikokapital zu akquirieren als in Deutschland, meint Sara Egetemeyr. „Die Leute sitzen hier auf ihrem Geld.“ Also stehen neben Messebesuchen oder Pitches hierzulande auch Reisen nach Schweden oder Texas im Terminkalender. Das nötige Durchhaltevermögen hat sie – und ist damit selbst Vorbild für Frauen, die mit dem Gedanken spielen, eine eigene berufliche Existenz zu gründen.
Text: Benedikt Brüne
Bild: Silvia Wolf Fotografie