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9 | 2017

Wirtschaft im Südwesten

7

titel

D

as Fahrrad galt lange Zeit als Verkehrsmittel für all jene, die

sich kein Auto leisten können. Dieses Stigma ist in den zu-

rückliegenden Jahren weitgehend verdrängt worden– durch

hochwertige, stylische Fahrräder und vor allem durch E-Bikes. Zum

Imagewandel tragen auch viele gesellschaftliche Entwicklungen bei.

„Das Fahrrad liegt in der Schnittmenge von gleich vier Trends“, schreibt

der Zukunftsforscher Matthias Horx. Das sind die Nachfrage nach

umweltfreundlichen Verkehrslösungen, das Gesundheitsbewusstsein,

der Trend zu neuen eleganten Designlösungen und die sogenannte

Convenience – in der verdichteten Großstadt sind Fahrräder einfach

praktischer. Das bestätigen Zahlen des Statistischen Landesamts: Je

größer die Gemeinde, desto höher der Anteil der Fahrradfahrer am

gesamten Verkehr. In großen Städten liegt er bei rund einem Fünftel,

in Freiburg sind es sogar über ein Drittel. Doch dank des E-Bikes holen

auch ländliche Regionen auf, denn mit motorisierten Rädern lassen

sich hügelige Dörfer oder längere Distanzen bewältigen, und

auch den Kinderanhänger zieht heute häufig ein Pede-

lec. In Baden-Württemberg sorgt zudem ein höheres

Durchschnittseinkommen dafür, dass der E-Bike-Boom

noch größer als im Rest der Republik ausfällt. Um das

Radfahren und damit auch die davon profitierenden

Unternehmen weiter zu fördern, hat sich das Land

eine Radstrategie verordnet (siehe Kasten auf Sei-

te 8). Mit der Beliebtheit der Zweiräder wächst die

Branche. Baden-Württemberg beheimatet ein starkes

Cluster mit Fahrradherstellern, -händlern und -dienst-

leistern, einem Umsatz von über zwei Milliarden Euro und

gut 30.000 Arbeitsplätzen (siehe Kasten auf Seite 9). Viele Firmen

sind in dieser Region anzutreffen.

D

a ist zum Beispiel der erst zwölf Jahre junge Gundelfinger Fahr-

radhersteller

Tout Terrain,

dessen Geschichte die Entwicklung

des ganzen Marktes zeigt: vom Spezialfahrrad übers Alltagsrad

zum E-Bike. Die Firmenchefs Oliver Römer und seine Frau Stephanie

sind echte Fahrradfreaks, die ihren kompletten Urlaub am liebsten

auf dem Sattel verbringen, mit zwei Rädern die Welt erkunden und

ihr Hobby zum Beruf gemacht haben. 2005 startete Oliver Römer zu-

nächst mit der Produktion eines Fahrradanhängers in die Selbststän-

digkeit, im Jahr darauf präsentierte Tout Terrain das erste Touren- und

Reiserad. 2008, als der Start geglückt war, gab Stephanie Römer ihre

Stelle in München auf und stieg auch ins eigene Unternehmen ein.

Die Zielgruppe der beiden waren anfangs Menschen wie sie selbst:

Radreisende, die lange Strecken fahren und deshalb Räder brauchen,

auf die sie sich verlassen können. Dem entsprach das damalige Portfo-

lio: hochwertige und sehr belastbare Tourenräder. Inzwischen ist Tout

Terrain aus dieser Nische herausgewachsen und breiter aufgestellt.

„Es spielt uns in die Karten, dass Fahrräder eine immer größere Rolle

spielen“, sagt Stephanie Römer. Mehr Menschen nutzen ihr Rad als

alltägliches Transportmittel, an dessen Zuverlässigkeit sie ähnliche

Anforderungen stellen wie Radreisende. Der Sektor „Urban“, unter

dem Tout Terrain die meisten seiner Alltagsräder zusammenfasst,

hat besonders zum Wachstum beigetragen. Und natürlich die erste

E-Bike-Serie, die vergangenes Jahr auf den Markt kam und dieses Jahr

voraussichtlich schon 15 Prozent zum Umsatz beiträgt.

15 Mitarbeiter zählt Tout Terrain zusätzlich zu den Inhabern, rund

1.500 Räder haben sie vergangenes Jahr produziert. Dabei ist jedes

ein Unikat. Die Rahmen kommen aus Italien oder Taiwan, werden in

Gundelfingen sandgestrahlt, in der Wunschfarbe des Kunden pulver-

beschichtet und komplett von Hand montiert. Das hat natürlich seinen

Preis: Je nach Ausstattung kosten Tout-Terrain-Räder zwischen 2.000

und 7.000 Euro. Stephanie Römer beobachtet, dass die Preise die

Kunden heute weniger abschrecken als noch vor fünf, sechs Jahren.

„Früher durften nur hochwertige Sporträder viel kosten. Heute sind

Fahrer, die ihr Rad viel nutzen, oft bereit, mehr Geld dafür auszugeben.“

V

on diesem Trend profitiert auch ein Nachbar von Tout Terrain

in Gundelfingen.

Supernova

entwickelt und produziert hoch-

wertige Leuchten für normale wie motorisierte Fahrräder. Die

allererste hat Gründer und Chef Marcus Wallmeyer aus Mangel an Al-

ternativen gebaut. Er fuhr Rennrad -und Mountainbikerennen, trainierte

viel und lang, konnte aber im Winter weniger fahren, weil es Mitte der

1990er-Jahre kein Licht für Sporträder gab, das so lang hielt. Deshalb

bastelte sich der Abiturient, der ein technisches Gymnasium besuchte,

eine Radlampe aus einer Tomatendose, einem Halogenbrenner und

einem Motorradakku. Freunde und Trainingspartner wurden zu seinen

ersten Kunden. Weil größerer Bedarf nach derartiger Leistungs-

beleuchtung bestand, gründete Wallmeyer seine Firma

– 1997 ließ er Supernova Design ins Gewerberegister

eintragen. Der Name steht für einen hell aufleuchten-

den Stern, und auch die Akkubeleuchtung, auf die

Wallmeyer sich anfangs spezialisierte, stach durch

außergewöhnliche Helligkeit hervor. 2001 setzte

Supernova erstmals LEDs ein und präsentierte den

weltweit ersten LED-Dynamoscheinwerfer. Ab 2004

bewegte sich der Firmenschwerpunkt in Richtung Erst-

ausstattung von Fahrradherstellern; heute beliefert Su-

pernova die renommiertesten Radmarken weltweit. Zudem

berät das Unternehmen von Wallmeyer, der Automobildesign in

Pforzheim studiert hat, große Automobilhersteller in Sachen Design-

und Technologie. 30 Angestellte arbeiten mittlerweile am Firmensitz in

Gundelfingen, und es entstehen weitere Arbeitsplätze. Insbesondere

aufgrund des E-Bikes hat sich das Geschäft explosiv entwickelt – die

jährlichen Zuwachsraten liegen zwischen 30 und 50 Prozent.

A

n der rasanten Entwicklung dieser beiden Firmen wie des

Fahrradmarktes insgesamt hat Ulrich Prediger mitgewirkt.

Der Freiburger Unternehmer hat das „

Jobrad

“ erfunden, das

mittlerweile zu einer großen Erfolgsgeschichte geworden ist. Als er

sich 2008 mit seiner

Leaserad GmbH

selbstständig gemacht hat, war

das noch nicht absehbar. „Mich haben alle belächelt, wenn ich ihnen

von meiner Geschäftsidee erzählt habe“, berichtet Prediger. „Heute

erlebe ich, dass sich drei gestandene Manager bei einem Empfang

bald eine Stunde lang über Fahrräder unterhalten. Das hätte es vor

drei bis fünf Jahren nicht gegeben.“ Ein Grund für diesen Wandel ist

Predigers Beharrlichkeit. Er war so überzeugt von seiner Idee, das

Fahrrad als Fortbewegungsmittel im Berufsalltag zu etablieren, dass

er dafür zum Lobbyisten wurde und dazu beitrug, eine entscheiden-

de Änderung im Steuerrecht zu erreichen: Ende 2012 entschieden

die Länderfinanzministerien in einem Erlass, dass das sogenannte

Dienstwagenprivileg auch für Fahrräder gilt und Arbeitgeber ihren

Mitarbeitern ein Dienstrad per Gehaltsumwandlung ermöglichen

können. Wie beim Dienstwagen muss lediglich der geldwerte Vorteil

mit einem Prozent des Brutto-Listenpreises monatlich versteuert

werden, wobei Diensträder sogar besser gestellt sind, weil der An-

fahrtsweg zur Arbeit nicht versteuert werden muss. Seither kann

man zuschauen, wie Jobrad wächst. Die Zahl der Mitarbeiter hat

sich im Lauf des zurückliegenden Jahres mal wieder verdoppelt auf

jetzt 120, Vertriebler, Servicemitarbeiter, Juristen, Informatiker. Das

Unternehmen stellt selbst keine Fahrräder bereit, sondern vermittelt

die Dienstleistung und Abwicklung des Fahrradleasings zwischen

»Wer sein Rad

viel nutzt, ist

heute oft bereit,

mehr Geld dafür

auszugeben«

Bild: Bill Ernest - Fotolia

Stephanie Römer,

Tour Terrain