Beim Neujahrsempfang der IHK Hochrhein-Bodensee sprach Gastredner Julian Nida-Rümelin über Demokratie und Verantwortung. Welche Voraussetzungen der Philosoph und Staatsminister a. D. für eine erfolgreiche Ökonomie sieht, fasst er selbst zusammen.

„Die ökonomische Praxis kann nur funktionieren, wenn die Menschen fair, verlässlich, wahrhaftig und vertrauensvoll miteinander umgehen und sich verständigen können. Beide Bereiche hängen von bestimmten ethischen Normen ab. Wenn diese erodieren – was passiert dann? Das haben wir erlebt bei der großen Weltwirtschaftskrise, die auf dem freien Markt in den USA begann. Ein Schwelbrand, und dann ging es auf einmal rasant, erfasste die ganze Welt. Was ist da passiert? Ich würde sagen, dem ging ein weitgehender moralischer Verfall in der Finanzbranche voraus. Vor allem junge, ehrgeizige Männer sagten sich: ‚Ich spiele jetzt hier mal mit den Milliarden. Wir wollen kurzfristig Geld machen, präsentieren Ihnen alle möglichen Argumente – die völlig haltlos sind – und ziehen dabei die Kunden einfach über den Tisch.‘ Das war ein Abgrund von Ethos-Verlust.
Und wie reagiert dann die Öffentlichkeit? Sie sagt: ‚Der Staat soll es richten‘, und der fängt an zu regulieren. Das Ergebnis ist Überregulierung, die am Ende vor allem diejenigen trifft, die an dem Desaster gar nicht schuld waren – insbesondere kleinere Genossenschaftsbanken und andere Mittelständler. Die großen Giganten hat es überhaupt nicht gestört.
Freiheit setzt Verantwortung voraus. Wenn die Menschen nicht verantwortungsvoll mit ihrer Freiheit umgehen, ist die Antwort staatliche Repression und Restriktionen. Das ist die Reaktion. Das heißt: Wenn wir die Freiheit einer Demokratie, die sich als freiheitliche Demokratie versteht, und einer Wirtschaftsordnung, die eine freiheitliche Wirtschaftsordnung ist, selbstverantwortlich aufrechterhalten wollen, geht das nicht ohne moralische Prinzipien in beiden Bereichen. Wenn diese moralischen Prinzipien auf breiter Front nicht eingehalten werden, dann sehe ich in der Tat schwarz – sowohl für die Demokratie, den Staat und die Gesellschaft als auch für eine am Menschen orientierte, humane und dynamische Ökonomie.

Wo bleibt das Positive? Ich glaube, wir haben gerade in Deutschland grundsätzlich gute Voraussetzungen. Deutschland ist ein Land, das in der Vergangenheit viel Unheil über die Welt gebracht hat, aber auch eine bemerkenswerte Fähigkeit besitzt, sich aus den absoluten Tiefpunkten der Geschichte wieder herauszuarbeiten. Wir haben trotz aller Kritik ein Bildungssystem, das weltweit selten zu finden ist – zum Beispiel eine hochqualifizierte Facharbeiterschaft, die es in den USA in dieser Form nicht gibt.
Wir haben Fehler gemacht. Ich habe in meinem Buch den ‚Akademisierungswahn‘ beschrieben, der beinahe unser gutes System kaputt gemacht hätte. Viele mittelständische Unternehmen, die handwerklich-technisch orientiert sind, leiden bis heute darunter. Es ist aber noch nicht zu spät.
Wir haben gute Voraussetzungen. Wir haben ein noch weithin intaktes Arbeitsethos. Wir haben technisch-handwerkliche Kompetenzen, um die uns viele auf der Welt beneiden. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht eine Phase erreichen, die ich mir erhoffe: Verantwortungswahrnehmung für das Ganze – sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft – und Freisetzung von Individualität, Kreativität und Erfindungsreichtum durch eine Rücknahme staatlicher Regulierungen. Dann können wir eine gute Zukunft haben.
Das wünsche ich uns. Das wünsche ich Ihnen. Sie tragen eine wichtige Verantwortung.“ Julian Nida-Rümelin