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Wirtschaft im Südwesten
11 | 2017
Leute
Neuanfang
mit altem Stoff
Jessica Dörr | „Gefühl für Leinen“
KANDERN.
Bei Jessica Dörr (50) gibt es ein Davor und
ein Danach. Das Davor, das ist ihr Leben als erfolgreiche
Managerin in der Textilindustrie: Fast zwei Jahrzehnte hat
sie für bekannte Bekleidungsunternehmen gearbeitet,
hat die Verlagerung der Produktion um die Jahrtausend-
wende miterlebt, ist in die Herstellerländer gereist –
Slowakei, Ungarn, Türkei und bald immer weiter weg,
nach Indonesien, Indien und China. Das Danach, ihre
Selbstständigkeit als Schneiderin, Schnittmacherin und
Ladenbesitzerin, begann vor acht Jahren, als sie in ihrer
Heimatstadt Kandern ihr „Nähwerk“ eröffnete und dem
Material Leinen begegnete, vor allem altem Leinen, das
sie faszinierte und zum Mittelpunkt ihrer Arbeit wurde.
Neue Bettwäsche aus altem Leinen ist heute Jessica
Dörrs Spezialität. Dazwischen liegt der Ausstieg, der
ihrem Naturell entsprechend heftig ausfiel. Bei einer
Dienstreise nach China im Frühjahr 2009 sah sie, was
nicht für die Augen der westlichen Besucherin bestimmt
war: einen Transport von Gefangenen als Zwangsarbei-
ter in eine Textilfabrik. Dieser Anblick ließ ihr Fass der
Erträglichkeit überlaufen. „Ich hatte die Schnauze voll
von der Textilindustrie und der Massenproduktion“,
erzählt Jessica Dörr beim Gespräch in ihrem schönen
Laden „Gefühl für Leinen“ mitten in Kandern, den sie im
Sommer bezogen hat. An einem Freitag kam sie nach
Hause, am folgenden Montag kündigte sie und stand
als alleinerziehende Mutter einer damals siebenjährigen
Tochter vor einem kompletten Neuanfang.
Der Entschluss markiert einen Wendepunkt: Individua-
lität statt Masse, Leinen statt Baumwolle, hochwertig
statt billig. Jessica Dörr besann sich auf ihre handwerk-
liche Ausbildung und fing wieder an, selbst zu nähen
wie schon ihre Urgroßmutter. Mit „Gottvertrauen“, wie
sie es nennt, startete sie 2008 in die Selbstständigkeit.
„Wenn man etwas erreichen will, dann muss man daran
glauben.“ Von ihrer Tante, einer Textildesignerin, bekam
sie den ersten Stapel altes Leinen und fand damit ihre
neue Aufgabe. In ihren Geschäftsräumen verarbeitet
und verkauft sie ausschließlich Leinenprodukte. Der
Stoff bringt Jessica Dörr ins Schwärmen, sie fühlt sich
berufen, ihn vor dem Aussterben zu retten. Ihr Traum?
„Eine eigene Leinenweberei.“ Bis es soweit ist, kauft
sie ihr Leinen in Deutschland, Italien und Frankreich ein
und verarbeitet nach wie vor viel altes Leinen. Sie muss
es nicht suchen, es kommt zu ihr. Nach ihrem Auftritt
beim SWR-Radiotalk „Leute“ beispielsweise schickten
ihr wildfremde Menschen ihre Leinenschätze.
Sie beliefert einzelne Kunden in Island, Slowenien und
sogar China. Die meisten kommen allerdings aus der
Region, und der neue Laden in der Kanderner Haupt-
straße zieht auch Touristen als Laufkundschaft an. Jes-
sica Dörrs Verhältnis zu ihren Kunden ist sehr persön-
lich. „Meine Arbeit liegt ja mit ihnen im Bett“, sagt sie.
Ihre Liebe zum Leinen ist ansteckend. „Frau Dörr, ich
freu mich schon wieder darauf, heute Abend ins
Bett zu gehen“, schrieb ihr mal eine Kundin
morgens in einer E-Mail. Das Schlafge-
fühl scheint phänomenal zu sein. Wer
einmal in Leinen schlief, will sich wohl
nicht mehr in Baumwolle betten. So
kommen viele Kunden wieder und
bestellen eine zweite Garnitur. Jessi-
ca Dörr fertigt und verkauft überwie-
gend im Auftrag. Zehn Stunden und
mehr sitzt sie an einer Bettwäsche –
mit einer Hingabe, als würde sie ein Ge-
schenk machen. Unterschiedliche Farben,
Texturen und Webarten prägen ihre Arbeit. „Man
braucht ein Gefühl für Leinen“, sagt Jessica Dörr. Daher
der Name des Geschäfts. Die Handarbeit hat natürlich
ihren Preis. Anfangs musste sie sich häufig dafür recht-
fertigen – und konterte mit ihrem Selbstbewusstsein als
Handwerkerin und dem Stolz auf ihre Qualität. Diesen
Anspruch will Jessica Dörr sich erhalten, auch wenn das
Geschäft wächst. Nicht größer, sondern exquisiter soll
der Laden werden. Sie selbst trägt übrigens nicht nur
Leinen und Selbstgeschneidertes, dafür fehlt die Zeit.
Sie kauft vor allem Secondhandklamotten, um dem
Wegwerfcharakter der Massenproduktion entgegenzu-
steuern. Aber die Tochter, mittlerweile 15, darf schon
auch mit den Freundinnen shoppen.
Jessica Dörr strahlt Lebensfreude aus, sie ist glücklich,
vor allem seit sie vor fünf Jahren ihren Lebenspartner
Christoph Bissinger kennenlernte. Sie teilen Leben und
Arbeitsplatz, Geschmack und Interessen. Zusammen
mit Tochter Marlene wandern oder radeln sie und nutzen
die freie Zeit, um immer wieder neue Ideen zu sammeln.
Jessica Dörr mag es auch, wenn’s richtig laut wird. Die
50-Jährige, die in ihrer wilden Teeniezeit die Haare pink,
blau, grün oder rot färbte und wegen frecher Sprüche
das Gymnasium in Lörrach beenden musste, hört immer
noch gerne Punkrock („das ist echte Entspannung“). In
ihrem Leben vor dem Ausstieg war sie 19-mal umgezo-
gen. Jetzt ist sie angekommen.
kat
KOPF
DES
MONATS