Nicht jede Online-AU ist rechtlich belastbar. Das LAG Hamm macht klar: Ohne echte ärztliche Untersuchung verliert das Attest seinen Beweiswert – mit möglichen arbeitsrechtlichen Konsequenzen.

Krankheitsbedingt arbeitsunfähige Arbeitnehmer müssen nach den Regelungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit unverzüglich anzeigen und durch ärztliche Feststellung nachweisen. Der Zeitpunkt und die Art und Weise der ärztlichen Feststellung sorgt häufig für Streit. Üblicherweise muss der Arbeitnehmer die Krankheit bei einem Arzt nach körperlicher Untersuchung feststellen lassen.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm setzt jetzt eine klare Zäsur im Umgang mit digital erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU). Eine ausschließlich über einen Online-Fragebogen generierte AU ohne jeglichen Arztkontakt genügt den Anforderungen der AU-Richtlinie des G-BA (kurz für Gemeinsamer Bundesausschuss) nicht und verliert ihren Beweiswert vollständig. Die Vorlage eines solchen Attests ist – aufgrund der damit verbundenen Täuschung über eine ärztliche Untersuchung – eine Pflichtverletzung und kann eine fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen.
Rechtsdogmatisch interessant ist die Einordnung im Lichte der früheren pandemiebedingten Sonderregelungen: Während der Corona-Zeit war die telefonische oder videobasierte AU-Ausstellung zwar erleichtert, aber dennoch stets an eine ärztliche Anamnese gebunden. Zulässig war die Krankschreibung nur bei bestimmten Indikationen (insbesondere leichten Atemwegsinfekten), nur in festgelegten Zeitfenstern und nur nach strukturierter Erhebung der Symptome durch eine Ärztin oder einen Arzt. Die Digitalisierung der AU blieb damit im Rahmen einer echten ärztlichen Befassung. Sie ersetzte lediglich den physischen Kontakt – nicht hingegen die medizinische Prüfung.
Das LAG Hamm führt diese Linie nun konsequent fort: Digitale Atteste sind nur dann beweiskräftig, wenn sie die Mindestanforderungen der ärztlichen Feststellung erfüllen. Reine „Fragebogen-AUs“ gänzlich ohne Untersuchung unterlaufen diese Struktur, verletzen das arbeitsvertragliche Vertrauensverhältnis und können arbeitsrechtlich drastische Konsequenzen, wie etwa eine außerordentliche fristlose Kündigung, nach sich ziehen. Für Arbeitgeber bedeutet das eine klare Stärkung der Möglichkeit, den Beweiswert digitaler Atteste kritisch zu hinterfragen und für Arbeitnehmer eine deutliche Warnung vor vermeintlich niedrigschwelligen Online-Angeboten ohne jegliche ärztliche Beteiligung.
Insbesondere wenn Arbeitnehmer ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von Ärzten vorlegen, die mehrere 100 Kilometer entfernt sitzen, lohnt sich eine Überprüfung des Arztes dahingehend, ob bei diesem Arzt solche unzulässigen Online-Fragebogen-generierten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen möglich sind.
Unser Autor
Erik Schmid ist Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Advant Beiten.
