Im digitalen Dauerrauschen wächst die Sehnsucht nach Stille, Sinn und Selbstbestimmung. Uwe Schirmer, Experte für Organisationspsychologie, erklärt, warum „langsamer“ nicht rückwärts bedeutet.

Ob Vinylplatten, Filterkaffee oder handgeschriebene Briefe – das Analoge erlebt eine Renaissance. Warum das so ist, welche psychologischen Bedürfnisse dahinterstehen und was Unternehmen daraus lernen können, erklärt Uwe Schirmer, BWL-Professor an der Hochschule in Lörrach.
Weihnachten steht vor der Tür – eine Zeit voller Rituale, Düfte und Handarbeit. Passt das noch in unsere zunehmend digitale Welt?
Ja, auf jeden Fall. Weihnachten ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie sehr wir Menschen das Analoge brauchen. Wir verbinden es mit Sinnlichkeit, mit Dingen, die wir riechen oder anfassen können. Gerade weil unser Alltag so stark von Computerarbeit geprägt ist, wächst das Bedürfnis nach echten, haptischen Erlebnissen – eine Art Gegenbewegung zur immer schnelleren, digitalen Welt.
Also eine Reaktion auf zu viel Tempo und Technologie?
Genau. Digitalisierung und KI beschleunigen unser Arbeiten enorm, manches können wir gar nicht mehr überblicken. Es entsteht ein Ungleichgewicht und das wollen wir ausgleichen. Wir suchen nach Dingen, die langsamer, realer, fassbarer sind. Deshalb hören wir wieder Schallplatten oder pflegen den Garten. Das sind kleine Ausgleiche zur abstrakten, digitalen Welt.
Ist Gleichgewicht eine Art psychologisches Grundbedürfnis?
Der Mensch strebt immer nach Balance. Wenn wir Hunger haben, gehen wir an den Kühlschrank, um das physiologische Gleichgewicht wieder herzustellen. Hinzu kommt die sogenannte Selbstbestimmungstheorie: Wir fühlen uns dann am wohlsten, wenn wir selbstbestimmt handeln können, also eigenmotiviert Entscheidungen treffen und uns als wirksam erleben. In der digitalen Arbeitswelt, in der vieles von außen gesteuert wird, geht dieses Gefühl oft verloren. Deshalb tut es uns so gut, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen. Denn dort sehen wir sofort das Ergebnis unserer Arbeit.
Das klingt fast nach einer Sehnsucht nach Kontrolle.
Das ist es auch. Digitalisierung bedeutet oft Kontrollverlust: Systeme arbeiten für uns, Prozesse laufen automatisch, KI trifft Entscheidungen. Diese Fremdsteuerung empfinden viele als Belastung. Das Analoge gibt uns dagegen ein Gefühl von Kontrolle zurück.
Wie reagieren Unternehmen auf diesen Wunsch nach Entschleunigung?
Viele noch gar nicht, aber das wird kommen. Entscheidend ist, dass Führungskräfte selbst ein Bewusstsein dafür entwickeln, Stichwort Health Oriented Leadership, also gesundheitsorientierte Führung. Ein Chef, der rund um die Uhr erreichbar ist und Mails verschickt, sendet ein fatales Signal. Wer dagegen sagt: „Nach Feierabend bin ich offline“, schafft eine Kultur, in der Erholung möglich ist – die Voraussetzung für langfristige Leistungsfähigkeit.
Wie kann man Arbeit so gestalten, dass sie gesünder wird – trotz Digitalisierung?
Ein spannender Ansatz ist das sogenannte Job Crafting. Dabei gestalten Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz aktiv mit – im Rahmen der Möglichkeiten natürlich. Sie entscheiden etwa, wie sie Aufgaben organisieren, mit welchen Kollegen sie zusammenarbeiten oder welche Software sie nutzen. Das stärkt das Gefühl der Selbstbestimmung und führt zu mehr Sinnhaftigkeit. Erste Unternehmen probieren das bereits aus. Dabei geht es nicht um Entschleunigung, sondern darum, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die motivieren statt überfordern.
Lässt sich ein digitaler Arbeitsplatz überhaupt noch analog gestalten?
Ganz zurück ins Analoge werden wir nicht können – das wäre auch nicht erstrebenswert. Aber wir können bewusste Gegenpole schaffen. Zum Beispiel: Nicht jedes Gespräch muss online stattfinden. Manchmal reicht es, einfach ein paar Stockwerke hinunterzugehen. Präsenztreffen und gemeinsame Workshops mit Hotelaufenthalt stärken den Zusammenhalt und das Vertrauen im Team. Ich spreche da von Sozialinvestitionen. Sie kosten zwar Zeit und Geld, zahlen sich aber durch Motivation und Verbundenheit zum Unternehmen aus.
Sind Entschleunigung und Cosyness ein Geschäftsmodell?
Absolut. Wir sehen das zum Beispiel im boomenden Seminarmarkt mit Angeboten zu Stressmanagement, Achtsamkeit oder MBSR, also Mindfulness-Based Stress Reduction, aber auch Yoga- oder Zeitmanagementkursen. Das Thema Runterkommen lässt sich sehr gut vermarkten. Ähnliches gilt für den Tourismus: Klosteraufenthalte, Entspannungs- oder Erholungs-Retreats liegen im Trend. Und auch im Bereich Home Living ist das längst angekommen – denken Sie an „kuschelige“ Einrichtungstrends oder das dänische Hygge-Konzept, das etwa Ikea geschickt nutzt.
Wird die Welt irgendwann wieder langsamer?
Das ist schwer abzuschätzen. KI wird vieles beschleunigen und die Arbeitsverdichtung wird weiter zunehmen. Aber der Mensch wird Grenzen setzen, freiwillig oder unfreiwillig, und sich wieder einen Gegenpol suchen. Viele können dieses Tempo nicht unbegrenzt mitgehen, der Mensch braucht Erholungsphasen, weil seine Kräfte endlich sind.
Ist Analog das neue Bio?
Das trifft es sehr gut. Die Bio-Bewegung war eine Reaktion auf industrielle Lebensmittelproduktion. Heute erleben wir Ähnliches in Bezug auf Digitalisierung. Denn Zeit wird zum Luxusgut. Wer sich leisten kann, das Handy auszuschalten oder bewusst nichts zu tun, zeigt fast schon Status. Vielleicht ist das der neue Luxus unserer Zeit: sich selbst Momente der Langsamkeit zu gönnen.
Interview: Daniela Santo
Uwe Schirmer
ist Studiengangsleiter BWL-Personalmanagement und wissenschaftlicher Leiter des Masters Personalmanagement und Wirtschaftspsychologie an der DHBW Lörrach.
