Hoher Krankenstand, viele Fehlzeiten? Da kann man was gegen machen, sagt der Acherner Sachbuchautor Manuel Fink. Im Interview verrät er, wie man kranke Unternehmen heilt – auch wenn die Medizin manchmal bitter ist.

Deutschland befindet sich im Krankenstand“, sagt der Acherner Personal-Experte Manuel Fink, der mit seinem Sachbuch „Fehlzeiten aktiv managen“ ein Tabuthema anspricht: den rekordverdächtig hohen Krankenstand in Deutschland. Einfach eine Folge der demografischen Entwicklung? Die Nachwirkung von Corona? „Nein“, sagt Fink und erläutert im Interview mit WiS-Chefredakteur Ulf Tietge, warum jede Führungskraft genau die Fehlzeiten hat, die sie verdient, was man gegen ausufernde Fehlzeiten machen kann und warum es höchste Zeit ist, betriebliche Krankenstände zu enttabuisieren und gegenzusteuern.
Herr Fink, Deutschlands Wirtschaft steckt tief in der Krise – aber einen Rekord haben wir 2024 erreicht: Noch nie gab es in Deutschland einen so hohen Krankenstand. Macht uns die Krise krank – oder haben wir kollektiv keinen Bock mehr?
Sicherlich sind die wirtschaftlichen und politischen Krisen belastend und beeinflussen individuell die mentale und psychische Gesundheit von Mitarbeitern. Jedoch ist der aktuelle Rekordkrankenstand ein Phänomen, welches auf mehreren Ursachen gründet. Im Generellen mache ich mir keine Sorgen um unsere Leistungsbereitschaft, denn von Natur aus sind die allermeisten im Betrieb motiviert. Aber es gibt natürlich auch einige, die zu Hause bleiben, obwohl sie fit genug wären, zur Arbeit zu gehen.
Also gehen Sie nicht mit, wenn ich sage: Wer krank ist, ist krank?
Nein, dies ist ein unbegründeter Glaubenssatz. Den Satz hören wir oft von Führungskräften, wenn sie auf ihre hohen Fehlzeiten angesprochen werden – oder von Mitarbeitern mit auffällig hohen und unterschiedlichen Fehlzeiten.
Diese auffällig hohen und zunehmenden Fehlzeiten – was steckt dahinter?
Es sind ganz viele Ursachen, die hier zusammenkommen. Erstens: Seit der Covid-Pandemie gibt es ein anderes Bewusstsein für Atemwegserkrankungen. Wo man früher noch mit einem Schnupfen zur Arbeit ging, wird man heute wegen möglicher Ansteckungsgefahren nach Hause geschickt. Ohne Homeoffice-Möglichkeit führt dies zu höheren Abwesenheiten.
Zweitens: In einer alternden Gesellschaft steigen die Ausfälle aufgrund von Verschleißerscheinungen. Jenseits der 55 dauert die Zeit bis zur Genesung fast doppelt so lange wie bei den unter 25-Jährigen. Hinzu kommt, dass die jüngeren Generationen ein anderes Verständnis von (ihrer) Gesundheit und ihrer Loyalität zu ihrem Arbeitgeber haben und sich früher krankschreiben lassen als ältere Mitarbeiter.
Drittens: Im Zehnjahresvergleich haben wir einen Anstieg der Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen um 48 Prozent. Das Gesundheitswesen liegt hier auf dem traurigen ersten Platz, steht im Psychreport der DAK 2023. Viele Krankschreibungen sind aufgrund von Depressionen oder Ängsten bei jüngeren Generationen festzustellen. Viertens: Wir messen besser als früher. Seit Januar 2023 erfolgt eine automatisierte, elektronische Übermittlung der Krankmeldung vom Arzt zur Krankenkasse – das führt zu einer gesteigerten Erfassungsquote. Fünftens: Seit Dezember 2023 sind telefonische Krankschreibungen dauerhaft möglich. Hier streiten sich die Wirtschaft, Politik und die Ärztekammern darüber, ob dies wieder rückgängig gemacht werden soll. Die Wirtschaft sagt, es ist zu einfach, sich krankzumelden. Die Ärzte sagen, es beuge einem Kollaps der Arztpraxen vor und vermeide Ansteckungen im Wartezimmer.
Das sind überwiegend Dinge, die man als Arbeitgeber nicht beeinflussen kann.
Es kommt noch etwas dazu: Mitarbeitende fühlen sich aufgrund des Fachkräftemangels – der trotz Wirtschaftskrise anhält – unersetzbar und melden sich eher krank, da sie davon ausgehen, auf der Arbeit nicht mit Nachteilen rechnen zu müssen. Denn der Krankenstand steht eindeutig mit der wirtschaftlichen Situation in Verbindung. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren, als Deutschland als „der kranke Mann Europas“ galt, ging der Krankenstand kontinuierlich zurück – auch aus Angst um den Job. Mit den Reformen der Agenda 2010 und dem Aufschwung nach der Finanzkrise 2008/2009 wurde die wirtschaftliche Situation besser – und der Krankenstand stieg an.
18 Tage ist der Durchschnittsdeutsche krankgeschrieben – wie hoch ist der echte Arbeitsunfähigkeits-Anteil, sozusagen der medizinische Wirklich-krank-Sockel?
Hierzu gibt es Forschungen von Peter Nieder, demzufolge das Ausmaß der beeinflussbaren Fehlzeiten bei etwa 40 Prozent liegt. Dann wäre der Medizinisch-wirklich-krank-Sockel bei elf Tagen. Eine amerikanische Studie aus 2012 geht sogar von nur 1,5 Prozent – also etwa vier Tagen – als Sockelbetrag aus.
Also sind wir ein Land mit immer mehr Blaumachern geworden?
Unbestritten, es gibt Blaumacher in unserem Land. Aber die Situation ist nicht neu, hat sich nicht verändert und ist auch kein rein deutsches Phänomen. Wir können festhalten, dass fünf bis zehn Prozent der Mitarbeitenden sich öfter krankmelden, obwohl sie fit genug wären. Einen dokumentierten Hinweis darauf liefert das Ergebnis der Umfrage „Arbeiten 2023“ von der Pronova BKK: Die Bettkantenentscheidung, bei der die Betroffenen sinnbildlich beim Aufstehen entscheiden, ob sie zur Arbeit gehen oder nicht, fällt bei 59 Prozent der Beschäftigten in Deutschland zugunsten der Krankmeldung aus, obwohl sie arbeitsfähig wären: Jeder Zehnte tut dies laut der Befragung häufig, 23 Prozent manchmal und 26 Prozent selten.
Gibt es Unterschiede von Firma zu Firma?
Bei einem Start-up, wo jeder jeden kennt und eine hohe Identifikation mit dem Unternehmen, dem Chef und der Arbeitsaufgabe existiert, werden das weniger sein. Als Regel gilt: Je größer das Unternehmen, desto weniger Bindung und desto mehr Blaumacher. Und diese Fälle gilt es, unbedingt zu identifizieren. Häufig spricht sich im Unternehmen herum, wenn jemand lieber blau macht als für ein Event, die Fastnacht oder ein Sportereignis Urlaub zu nehmen. Wenn der Vorgesetzte das nicht ahnden und es keine Konsequenzen gibt, frustriert das alle loyalen leistungstragenden und teamorientierten Kollegen.
Was muss geschehen, um eine Trendumkehr einzuleiten? Wäre es ein Ansatz, die Lohnfortzahlung einzuschränken und Karenztage einzuführen?
Die Einführung eines Karenztages wäre ein schneller gesetzlicher Schritt, um die Unternehmensseite zu entlasten, ist jedoch zu kurz gedacht. Die Gewerkschaften werden das nicht mitgehen. Sie werden die Lohnfortzahlung ab dem ersten Tag in Tarifverträge hineinverhandeln. Das wäre ein nachhaltig kommunizierbarer Verhandlungserfolg und der Markt wird im Kampf um Talente mitziehen „müssen“.
Bei einer generellen Regelung werden außerdem stets die bestraft, die wirklich erkrankt sind und Hilfe benötigen. Und Blaumacher, die trotz Arbeitsfähigkeit zu Hause bleiben, werden das zum Anlass nehmen, gleich die ganze Woche zu Hause zu bleiben, wenn sie den ersten Tag nicht bezahlt bekommen. Im Niedriglohnsektor, wo man sich einen Tag Entgeltausfall nicht leisten kann, kommt der Präsentismus hinzu: Wer trotz Arbeitsunfähigkeit zur Arbeit erscheint, riskiert Verschleppungen und gefährdet andere Mitarbeiter durch Ansteckungsgefahren.
Was können Arbeitgeber dann tun?
Sie können Fehlzeiten aktiv managen, und das mit größerem Erfolg als die meisten denken.
Also die Mitarbeiter ansprechen, fragen, nachhaken. Ich fürchte: Das will nicht jeder…
Richtig. Wir Menschen sind von Natur aus konfliktscheu. Jedoch geht es hier ja um konstruktive Konfliktlösungen. Es geht darum, betriebliche oder persönliche Missstände aufzudecken und eine positive Veränderung herbeizuführen.
Wie machen Sie das? Eher informell an der Kaffeemaschine, ganz offiziell im Konferenzraum oder einfach mit einer Mail?
Nicht per Mail. Dafür ist das Thema zu emotional. Im persönlichen Gespräch gibt es viel wertvolleres Feedback und weniger Missverständnisse. Ob das Gespräch an der Kaffeemaschine, am Parkplatz oder als offizielles Gesundheitsfördergespräch im Konferenzraum stattfindet, liegt daran, ob die Fehlzeiten der Mitarbeiter Auffälligkeiten aufweisen. Wer zum ersten Mal krank ist, wird eine informelle Atmosphäre mit wenig Aufwand zu schätzen wissen, wenn man ihn am Kaffeeautomaten anspricht und sagt: Mir ist aufgefallen, dass du gefehlt hast. Schön, dass du wieder da bist. Hatte die Abwesenheit etwas mit dem Betrieb oder der Arbeitsaufgabe zu tun? Gibt es andere Gründe? Kann ich dich unterstützen oder brauchst du etwas?
Wer Mitarbeiter laufend nach dem Grund für eine Krankschreibung fragt – der gilt schnell als toxischer Chef. Als einer, der nicht vertraut. Wie gehen Sie damit um?
Zum einen ist es rechtlich unzulässig nach dem Grund zu fragen. Aber man kann fragen: „Hatte die Abwesenheit etwas mit dem Unternehmen oder der Arbeit zu tun?“ und: „Kann ich etwas tun und unterstützen?“ Denn es geht immer um das Aufdecken von Missständen und um eine Win-win Lösung. Wenn die Fragen und das Gespräch authentisch geführt werden, werden dies vor allem die Leistungsträger schätzen und sich gehört fühlen. Letztlich mag es jeder Mensch, wenn sein Arbeitgeber sich um seine Gesundheit sorgt. Blaumacher dagegen werden diese Gespräche nie mögen und immer etwas Negatives unterstellen. Das muss man akzeptieren.
Fehlzeiten aktiv managen
Manuel Finks Methode und Strategie zur Reduzierung ungeplanter Fehlzeiten und zur Steigerung der Mitarbeitermotivation ist bei Haufe als Buch erschienen.
244 Seiten kosten 49,99 Euro
