
Deilingen. Zu seinem 50. Geburtstag vor einigen Jahren hat sich Joachim Schreijäg aus Deilingen im Landkreis Tuttlingen einen besonderen Wunsch erfüllt: eine Teilzeitstelle – um sein Unternehmen „rosszeit“ weiterzuentwickeln. Dass der CAD/CAM-Programmierer, der im Maschinen- und Spritzgussformenbau und in der Medizintechnik gearbeitet hat, seine gut bezahlte Stelle schließlich 2021 – mitten in der Coronapandemie – ganz gegen Kutschbock und Selbstständigkeit eintauschte, habe in seinem Umfeld für viel Unverständnis gesorgt, erinnert er sich. „Aber ich bin ein sturer Überzeugungstäter.“
Heute bietet der Mittfünfziger Kommunen und privaten Waldbesitzern ganzjährig Holzrückarbeiten mit Pferden an. Dabei arbeitet er nach traditioneller Arbeitstechnik und dem sogenannten Kölner Verfahren: Statt mit dem Traktor holt Joachim Schreijäg die Baumstämme mit seinen beiden Noriker-Kaltblütern – Zeus und Whoke – aus dem Wald und vermeidet so die tiefen Fahrspuren zwischen den Bäumen. Leichtere Arbeiten übernimmt auch schon mal das Shetlandpony. Zeus und Whoke ziehen rund ums Jahr auch die Kutsche und im Winter den Pferdeschlitten. Gemeinsam mit Touristen und mit Gästen von Geburtstags- und Hochzeitsfeiern oder Junggesellenabschieden geht es dann durch die Wälder und über die Felder rund um den Großen Heuberg, in der „Region der zehn Tausender“ auf der Schwäbischen Alb.
„Einspannen und dabei ausspannen“ lautet die Devise seines Angebots ( www.rosszeit.de). Damit das gelingt, bietet Joachim Schreijäg Themenfahrten an und arbeitet mit Fremdenführern und Caterern aus der Region, die für das leibliche Wohl der Teilnehmer sorgen.
Bevor es so weit war, hat sich der Unternehmer vieles selbst beigebracht. Zum Beispiel, wie der Wald achtsam mit Pferden gepflegt werden kann und was beim Einsatz von Pferdezugtechnik zu beachten ist. Schreijäg machte sich mit YouTube-Videos schlau, sprach mit Gleichgesinnten, besuchte Fuhrmannsmuseen und andere Fuhrhaltereien. Wie die Theorie in der Praxis funktioniert, testete er im rund ein Hektar großen familieneigenen Wald. Nach den ersten Selbstversuchen mit Kutsche wurde ihm allerdings klar: Ich brauche professionelle Nachhilfe. Ein paar Lehrgänge für Fuhrleute später, lief alles gleich schon viel besser.
Einblicke in seinen Arbeitsalltag teilt der Pferdeliebhaber via Facebook. Mit Erfolg: Seine Socialmedia-Aktivitäten haben nicht nur Kunden, sondern auch den Südwestrundfunk aufmerksam gemacht. Der Sender produzierte erst einen kurzen TV-Beitrag für die Landesschau und entschied dann, Schreijäg ein Jahr lang zu begleiten. Herausgekommen ist die Reportage „Joachims Experiment – Landwirtschaft wie vor 100 Jahren“, die es auch in der ARD-Mediathek zu sehen gibt. Die Ausstrahlung 2022 füllte das Auftragsbuch für Kutsch- und Schlittenfahrten, sodass Schreijäg erstmals profitabel wirtschaftete und nicht auf Rücklagen zurückgreifen musste.
Dass sich sein Geschäftsmodell trägt, liegt auch am Lebensstil des „Minimalisten aus Leidenschaft“, wie sich der Deilinger selbst nennt. Sein Auto hat er verkauft, in Urlaub fährt er mit Rad oder Bahn und einen Großteil der benötigten Lebensmittel baut er selbst an. Insgesamt bewirtschaftet er rund vier Hektar Acker und Grünland. Hinzu kommt ein hoher Grad an Eigenleistung. „Arbeitsgeräte baue ich soweit möglich selbst, Beschädigtes versuche ich zu reparieren. Diesen Sommer habe ich erstmals mit den Pferden Heu gemacht“, sagt Schreijäg, den regelmäßig „WWOOfer“ unterstützen. Das sind freiwillige Helfer, die gegen Kost, Logis und Wissenstransfer auf ökologischen Höfen mithelfen.
So romantisch das Leben als selbstständiger Selbstversorger klingt, so herausfordernd ist es. Das Leistungsvermögen der Pferde ist – gerade auch in der Sommerhitze – begrenzt, die Witterungsverhältnisse sind schwer planbar. Bei Anfragen außerhalb der Region kämen, so Schreijäg, noch Reiseplanung und Logistik als limitierende Faktoren hinzu: Welche Strecke schaffen die Tiere pro Tag? Gibt es einen passenden Unterstand für alle? Stehen Einnahmen und Aufwand in einem vertretbaren Verhältnis?
Daher plant Joachim Schreijäg, sein Portfolio im nächsten Jahr zu erweitern. Interessierte sollen ihn dann in den Wald begleiten können, um mehr über das Handwerk des Holzrückens zu erfahren. Zudem möchte er Gästezimmer im Haus einrichten und Übernachtungen im Planwagen anbieten. Neben dem Pferdestall soll ein Stellplatz für Wohnwagen entstehen. Abgesteckt ist er schon.
Kristin Schwarz