Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Oktober '19 -Südlicher Oberrhein

Wirtschaft im Südwesten 10 | 2019 8 titel anbieten. Auf der Freiburger Mess‘ beispielsweise ist der Bonbon-Onkel eine Institution. Längst etabliert sind auch viele andere Gründungen aus dem Jahr 1919: zum Beispiel die auf Schokolade sowie Formen und Verpackungen dafür spezialisierte Handelsagentur Friedrich Bruno, die in Singen gegründet wurde und heute in Reute ansässig ist. Eichner Bau aus Lahr zählt ebenso dazu wie die Garnfabrik Madeira in Freiburg. Viele haben damals klein angefangen und sind im Laufe der Jahre zu großen Betrieben gewachsen. Dazu zählt die Bäckerei K&U mit Sitz in Neuenburg, die heute zu Edeka Südwest gehört, rund 680 Filialen betreibt und etwa 5.000 Mitarbeiter beschäftigt. Ihre Ursprünge liegen in der Bäckerei Usländer, die der Gengenbacher Bäcker Franz Usländer 1919 in Freiburg eröffnete. Andere Beispiele für erfolgreiche Gründungen aus dem Jahr 1919 sind die auf Büroeinrichtungen spezialisierten Hund Möbelwerke mit Hauptsitz in Biberach, der Re- cyclingspezialist Schuler Rohstoff aus Deißlingen, die Leipold-Gruppe, Hersteller von Präzisionsteilen aus Me- tall mit Stammsitz in Wolfach, und die Prototyp-Werke in Zell am Harmersbach, die Gewinde- und Fräswerkzeuge produzieren (siehe Seite 36). Das auf dem Gelände einer alten Mühle in Stadelhofen gegründete Progress-Werk Oberkirch ist längst ein Konzern mit knapp 3.500 Be- schäftigten in Deutschland, Kanada, Tschechien, Mexiko und China. Metall zu verarbeiten, was PWO heute für die Automobilindustrie macht, war bereits die Absicht der sieben schwäbischen Gesellschafter, als sie das Unter- nehmen vor 100 Jahren gründeten. Die erste Thalia- Buchhandlung wurde 1919 im Thalia-Theater in Hamburg gegründet – seit rund drei Jahren hält der Freiburger Verleger Manuel Herder die Mehrheit an dem Unterneh- men, und viele Buchhandlungen in der Region gehören inzwischen zu Thalia. D ie genannten Betriebe haben eines gemeinsam: Sie alle konnten dieses Jahr ihren 100. Geburtstag feiern, haben also nicht nur die wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich turbulenten Jahre der Wei- marer Republik überstanden, die in der Weltwirtschafts- krise ab 1929 gipfelten. Zudem haben sie – auf welche Art auch immer – den Zweiten Weltkrieg überdauert. Und sie haben viele Hürden ganz anderer Art überwunden. Die meisten Hundertjährigen sind mittelständische Fa- milienunternehmen – so wie es für die Wirtschaft in der Region typisch ist. Darin sieht der Freiburger Betriebs- wirtschaftsprofessor Tscheulin den Hauptgrund für ihr langes Überdauern: „Familienunternehmen denken in Generationen, sie sind langfristig ausgerichtet“, sagt er. „Ein gutes Familienunternehmen ist kaufmännisch vorsichtig, das heißt, es kalkuliert sein Risiko, handelt mit Augenmaß und ist ein konservativer Innovator.“ Investiert würde häufig nur mit Eigenkapital, um die Unabhängig- keit zu wahren. Dies sei früher so gewesen, und dies Die Gründungssiedlung der Genossenschaft Heimbau Breisgau (links). Mit der oben stehenden Anzeige, die am 1. Juli 1919 im „Kinzigtäler“ erschien, suchten die Möbelwerke Hund im Gründungsjahr Mitarbeiter. DAS JAHR 1919 Das Kriegsende im November 1918 besiegelte das Ende der Monarchie in Deutschland. Die No- vemberrevolution und die Gegenrevolution im Mai 1919, Meutereien, Massenarbeitslosigkeit vor allem unter den vielen Kriegsheimkehrern, Generalstreiks sowie Putschversuche brachten politisch und gesellschaftlich unruhige Zeiten mit sich. Dem gegenüber standen die Maßnahmen für eine politische und wirtschaftliche Stabilisie- rung: Auf Initiative der Länder wurde im Januar 1919 eine provisorische Reichsregierung gebildet, und die Deutsche Nationalversammlung wurde gewählt. Daran durften zum ersten Mal Frauen teilnehmen – daher wird 2019 auch 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert. ImAugust 1919 wurde inWeimar die erste demokratische Reichsverfas- sung verabschiedet; nach dem Ort, an dem dies geschah, ist die Zeit zwischen den beiden Welt- kriegen benannt (Weimarer Republik). 1919 wur- de aus der Zwangs- wieder eine freieWirtschaft, die sich aber trotz der vielen, durch die Geldpolitik der Regierung unterstützten Gründungen noch auf niedrigem Niveau bewegte. mae

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