Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Oktober '19 -Südlicher Oberrhein

10 | 2019 Wirtschaft im Südwesten 7 „E s gab in Deutschland eine Aufbruchstimmung“, sagt Dieter K. Tscheulin, Professor für Betriebswirt- schaftslehre an der Universität Freiburg, mit Blick auf die Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Das sei typisch für die Zeit nach einer Zäsur, wie das Ende des Ersten Weltkriegs eine war. Dieser Einschnitt markiert zugleich den Übergang von der Monarchie zur Demokratie (siehe Kasten Seite 8), die für den Einzelnen mehr Freiheiten mit sich brachte. „Das hat viele Leute mit Unternehmergeist begünstigt“, sagt Tscheulin. Während der vier Kriegsjahre – der Erste Weltkrieg be- gann am 28. Juli 1914 und endete am 11. November 1918 – wurde die Wirtschaft staatlich gelenkt und auf den Krieg umgestellt. Viele bestehende Betriebe mussten ihre Produktion auf Rüstungs- und andere für die Kriegs- führung wichtige Güter konzentrieren. Unternehmen, bei denen dies nicht möglich war, bekamen häufig keine Roh- oder Brennstoffe zugewiesen, konnten dann oft nicht mehr produzieren und mussten schließen. Auch exportorientierte Firmen standen häufig vor Problemen, mussten Mitarbeiter entlassen oder gar schließen. Da die Kriegsgegner eine Blockade gegen Deutschland ver- hängt hatten und auch die deutsche Regierung Exporte in viele Länder untersagte, konnten kaum mehr Waren ausgeführt werden. Thorsten Maentel, wissenschaftli- cher Mitarbeiter des Wirtschaftsarchivs Baden-Würt- temberg, einer von den baden-württembergischen IHKs und dem Land getragenen Stiftung, hat für Württemberg (für Baden gibt es keine Zahlen) ein „starkes Betriebs- sterben im Ersten Weltkrieg“ festgestellt. Gab es Ende 1913 noch rund 14.000 Betriebe, waren es Ende 1918 nur noch 11.600, Ende 1919 aber wieder etwa 14.000. D ie Zahlen der IHKs Hochrhein-Bodensee, Schwarz- wald-Baar-Heuberg und Südlicher Oberrhein spre- chen für eine zumindest kleine Gründungswelle in der Region 1919: In den Stammdatenregistern der drei Kammern finden sich insgesamt 93 Firmen mit dem Grün- dungsjahr 1919. 1918 waren es gerade einmal 18, 1920 und 1921 waren es 62 beziehungsweise 65. Die Ursachen für diese vielen Gründungen 1919: In dem Jahr wurden die kriegsbedingten Wirtschaftssanktionen abgeschafft, sodass aus einer Kriegs- wieder eine Friedenswirtschaft werden konnte. Denn die Menschen – vor allem die vie- len aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten – brauchten Arbeit. Da es viele Unternehmen, in denen sie vor dem Krieg gearbeitet hatten, nicht mehr gab, blieb ihnen oft keine andere Wahl als selbst aktiv zu werden. „Die Not- wendigkeit, Unternehmen zu gründen, war 1919 da“, sagt Thorsten Maentel. „Jemand der Mut, Phantasie und wirt- schaftliches Geschick hatte, hatte große Möglichkeiten, etwas auf die Beine zu stellen.“ Der Wirtschaftsprofessor Tscheulin betont: „Natürlich herrschte 1919 Unsicher- heit. Da man aber nichts Sicheres aufgab, konnte man auch einfacher unternehmerische Initiative zeigen.“ Den Gründern kam zugute, dass die Banken ihnen ohne große Probleme Kredite gewährten; der eigentlich über- schuldete Staat unterstützte die Unternehmen 1919/20 mit einer großzügigen Geldpolitik. Denn der Regierung war daran gelegen, dass in Deutschland viel produziert wurde, um die Reparationszahlungen, die das Land den Siegermächten entrichten musste, stemmen zu kön- nen. Und die Menschen wollten wieder konsumieren, Kleidung, Möbel und vor allem Lebensmittel kaufen, was während der Kriegsjahre angesichts des fehlen- den Angebots nicht möglich gewesen war. Viele waren arm, andere aber hatten Geld gespart, da sie es nicht hatten ausgeben können. Da der Staat die Inflation re- lativ gering gehalten hatte, hatte das Ersparte kaum an Wert verloren. Im Jahresbericht des Badischen Gewer­ beaufsichtsamtes ist für das Jahr 1919 zu lesen: „Der be- schränkten Produktionsfähigkeit stand ein Warenhunger gegenüber, der die Erzeugung um jeden Preis forderte.“ I m Jahr 1919 entstanden nicht nur Unternehmen aus dem Konsum- und Verbrauchsgüterbereich. „Das Spektrum an Firmen, die gegründet wurden, ist sehr breit“, sagt der Historiker Thorsten Maentel. Das zeigt auch ein Blick in die Region: Zu den 1919 gegründeten Unternehmen zählen neben zahlreichen Handwerksbetrie- ben die Freiburger Baugenossenschaft Heimbau Breisgau, die es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, vor allem fehlende Arbeiterwohnungen zu schaffen (siehe Seite 45) und der Seilwindenhersteller Rotzler aus Steinen. Auch der Bonbon-Onkel aus Behra (Gemeinde Hüfingen) ist darunter. In vierter Generation sind heute Mitglieder der Familie Eberling mit ihrem fahrenden Verkaufsstand auf Märkten und Messen unterwegs, wo sie ihre Süßigkeiten »Die Notwen- digkeit, Un- ternehmen zu gründen, war 1919 da« Thorsten Maentel , Wissenschaftlicher Mitar- beiter, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg ZAHLEN Verlässliche Zahlen darüber, wie viele Unterneh- men es im Regierungsbezirk Freiburg während des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach gab und wie viele von ihnen jeweils Gründungen waren, gibt es nicht. Auch die IHKs haben nicht die Gründungsdaten all ihrer jetzigen und ehe- maligen Mitglieder erfasst. Folgende Daten liegen ihnen vor – ohne Anspruch auf Vollständigkeit: IHK-Bezirk Jahr Grün- Noch dungen bestehend Hochrhein- 1918 2 0 Bodensee 1919 12 4 1920 6 0 1921 10 4 Schw.-Baar- 1918 8 5 Heuberg 1919 27 16 1920 23 14 1921 17 7 Südlicher 1918 8 1 Oberrhein 1919 54 20 1920 33 7 1921 38 12

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