Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Oktober'22 -Südlicher Oberrhein

50 IHK-Zeitschrift Wirtschaft im Südwesten 10 | 2022 Themen & Trends Frau Steckeler, wie ernst ist die Lage? Im Moment sind erst circa 15 Prozent der Bestandsprodukte überführt worden. Wir ha- ben noch etwas mehr als anderthalb Jahre für die restlichen 85 Prozent. Und die benannten Stellen brauchen schätzungsweise zwischen zwölf und 18 Monaten, um eine Produktakte zu zertifizieren. Viele Hersteller, die ihre Pro- dukte neu zertifizieren lassen wollen, bekom- men im Moment gar keinen Kontakt zu einer „Benannten Stelle“, weil die keine Kapazitäten haben. Findet die Überführung nicht recht- zeitig statt, bevor das alte Produktzertifikat ausläuft, dürfen die Unternehmen dieses Pro- dukt nicht mehr in den Markt bringen. Es sieht aktuell nicht gut aus. Die Zeit läuft davon. Das heißt, dass Produkte vom Markt ver- schwinden werden? Ja. Im Moment sind Unternehmen im Prinzip dazu gezwungen, sich aufgrund der MDR auf weniger Produkte zu fokussieren, weil sie es nicht schaffen werden, alles in die MDR zu überführen - weder zeitlich, noch mit Blick auf die Kosten. Die Umsetzung der neuen rechtlichen Vorgaben ist mit großen finan- ziellen und zeitlichen Herausforderungen verbunden. Wenn man am Ende finanziell drauflegen muss, um ein Produkt am Markt zu halten, ist das wirtschaftlich logischerwei- se nicht machbar. Die Unternehmen werden in den nächsten zwei, drei Monaten weitere Entscheidungen fällen, welche Produkte sie noch weitertragen und welche nicht. Und wenn diese Entscheidungen gefallen sind, werden sie nicht mehr so leicht rückgängig gemacht. Welche Folgen hat das für Patienten und Unternehmen? Produkte werden vom Markt verschwinden. Und diese Produktabmeldungen werden alle Anwendungsgebiete umfassen. In der Pres- se wird viel von Produkten für Neugeborene Europäische Medizinprodukteverordnung „Das wird die Unternehmens- landschaft verändern“ DIE MEDIZINPRODUKTEVERORDNUNG Die neue Europäische Medizinprodukte- verordnung (Medical Device Regulation, kurz MDR) ist die politische Reaktion auf den Skandal um mangelhafte Brustim- plantate im Jahr 2012. Seit Mai 2021 ist die Verordnung die verbindliche Vorgabe für Hersteller von Medizinprodukten in der EU und in Deutschland, um Medizinpro- dukte in Verkehr zu bringen. Um für mehr Patientensicherheit zu sorgen, schreibt das Gesetz wesentlich detailliertere Anforde- rungen an Prozesse und bessere Kontrolle der technischen Dokumentation vor als bislang, sowie dieVerpflichtung zur Nach- beobachtung von Medizinprodukten über den gesamten Produktlebenszyklus durch die Hersteller. Es gibt keinen Bestands- schutz: Laut MDR müssen alle bereits ge- nehmigten Medizinprodukte erneut nach den neuen Anforderungen geprüft und zertifiziert werden. Das heißt, Hersteller müssen sich über so genannte „Benannte Stellen“ - das sind staatlich autorisierte Stellen - bescheinigen lassen, dass ihre Produkte den Sicherheitsanforderungen Genüge tun. Spätestens am 26. Mai 2024 laufen die noch gültigen Zertifikate aus. Die Benannten Stellen haben allerdings mit Anwendungsdatum der MDR ihre vormals gültigen Autorisierungen verlo- ren und müssen selbst ein komplexes und langwieriges neues Benennungsverfahren durchlaufen, um auch nach neuer Rechts- lage tätig werden zu dürfen. Deswegen sind im Moment nur wenige Benannte Stellen verfügbar. ZUR PERSON Julia Steckeler ist Geschäftsführerin der Medical Mountains GmbH mit Sitz in Tuttlingen. Die Industrieinitiative ver- folgt das Ziel alle Akteure der Medizin- technikbranche zu vernetzen und zu unterstützen. Medical Mountains hat im April gemeinsam mit dem DIHK und dem Industrieverband für Optik, Photonik, Ana- lysen- und Medizintechnik Spectaris eine Umfrage bei Medizintechnikunternehmen durchgeführt, die ihre Produkte nach den Vorgaben der Europäischen Medizinpro- dukteverordnung (MDR) neu zertifizieren müssen (siehe Kasten). Die Ergebnisse der Umfrage, in der die Unternehmen einen erheblichen Rückstau bei den Zertifizierun- gen schildern, kann über medicalmoun- tains.de kostenfrei angefordert werden. Viele bewährte Medizinprodukte werden vom Markt verschwinden. Grund ist ausgerechnet die neue Europäische Medizinprodukteverordnung (MDR), die für mehr Patientensicherheit sorgen soll. Julia Ste- ckeler, Geschäftsführerin von Medical Mountains, über die Herausforderungen für regionale Hersteller.

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