Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Juli/August '21 - Hochrhein-Bodensee

7 7+8 | 2021 IHK-Zeitschrift Wirtschaft im Südwesten TITEL Bild: imacoconut - iStock D ass sich der Begriff „enkeltauglich“ zum Mo- dewort entwickelt hat, zeigt: Auch wenn bis- lang nur wenige börsennotierte Unternehmen tatsächlich verpflichtet sind, ihre Bilanz um einen Nachhaltigkeitsbericht zu ergänzen, ist das Thema Nachhaltigkeit längst in der Wirtschaft angekommen. Dafür sorgen heiße, trockene Sommer ebenso wie der von der EU angekündigte „Green Deal“. Häufig wird der Satz des Investmentbankers Larry Fink (Blackrock) „Klimarisiken sind Anlagerisiken“ zitiert, um die Zusam- menhänge zu verdeutlichen. In sterbende Branchen will niemand investieren. Und dass Veränderungen mitunter disruptiv sein können, haben die vergangenen Jahre deutlich gezeigt. Der Druck auf Unternehmen wächst also. Die Hand- lungsempfehlungen, was genau sie tun können, blei- ben indes sehr vage. Hier könnte ein jüngst beendetes Pilotprojekt konkretere Wege zeigen: Quartavista hat bewiesen, dass Nachhaltigkeit in der Bilanz abgebildet werden kann. Und zwar ganz monetär in Zahlen. Der Walldorfer Softwarekonzern SAP hat dafür eines seiner Produkte um Leistungskennzahlen aus dem Nachhal- tigkeitsbereich ergänzt. Der Prototyp enthält 40 Auf- wandspositionen, die die Projektpartner definiert und in die Bilanz integriert haben. Dabei haben sie die drei klassischen Nachhaltigkeitsthemen Ökonomie, Ökologie und Soziales um den vierten Bereich Wissen ergänzt. Deshalb heißt das Projekt Quarta vista (lateinisch: vier Blickwinkel) und das Logo besteht aus vier bunten Klee- blättern (siehe links unten). Rechenbeispiel zum Thema Wissen: Wenn der Betrieb ausbildet, entstehen ihm nach der Quartavista-Methodik nicht nur Kosten, sondern er kann das aufgrund der Ausbildung aufgebaute und bewahrte Wissen auch mit den entsprechenden Kenn- zahlen auf der Vermögensseite verbuchen. Dieses Prinzip hat die Regionalwert AG aus Eichstetten am Kaiserstuhl entwickelt, einer der Projektpartner von Quartavista. Das Bundesarbeitsministerium hat das Modellprojekt während seiner zweijährigen Laufzeit gefördert. Vier Unternehmen – außer Regionalwert die Bingenheimer Saatgut AG aus der Wetterau, der Natur- kostgroßhandel Bodan aus Überlingen am Bodensee und die Bohlsener Mühle in der Lüneburger Heide – haben die nachhaltige Buchführung in der betrieblichen Praxis erprobt. Das Ergebnis: Es funktioniert. E ntsprechend euphorisch klangen die Reden bei der Quartavista-Abschlusspräsentation im Früh- jahr. „Wir hoffen auf den Beginn einer neuen Zeitrechnung, auf die Reform der Bilanzbuchhaltung zur ökologisch-ökonomischen Wende“, sagte Christian Hiß . Der Geschäftsführer der Regionalwert AG ist der Initiator des Projekts. Er kennt das Problem der vollstän- digen betrieblichen Erfolgsmessung noch aus seiner Zeit als Biolandwirt: „Wir rechnen die Verluste, die der ländliche Raum erlebt, nicht ein“, sagt Hiß. Das fördere eine fatale Entwicklung. Investitionen in die künftige Fruchtbarkeit des Bodens zahlten sich für den Landwirt nicht aus. Investiert er dennoch, entstehen Kosten, die im Aufwand auftauchen und abgestraft werden. Einen „fatalen Konstruktionsfehler“, nennt Hiß das, in dessen Folge große Werte verloren gehen. Das Thema treibt ihn seit vielen Jahren um. Deshalb hat Hiß nach der Land- auch Betriebswirtschaft studiert, 2006 seine Regionalwert AG als Bürgeraktiengesell- schaft gegründet und in deren Satzung geschrieben, dass soziale und ökologische Leistungen als Rendite zu sehen sind. Als Basis dienen die von den Vereinten Nationen definierten 17 globalen Ziele für nachhalti- ge Entwicklung der Agenda 2030, die „Sustainable Development Goals“, kurz: SDG. So will er das Finan- zierungsproblem in der Biolandwirtschaft verbessern (siehe auch WiS 2/21). Parallel hat Hiß sich dem Thema Buchführung gewidmet – damit nicht nur das eigene, sondern alle Unternehmen richtig rechnen. Das Brett, das Hiß bohrt, ist sehr dick. Seine Methode: durchhalten, dranbleiben, abchecken. Er geht auf die Leute zu, spricht sie an. So ist er schon vor vielen Jahren zum Institut für Wirtschaftsprüfer (IDW) gefahren und konnte dessen Leiter für Nachhaltigkeit für seinen An- satz gewinnen. Jetzt saß IDW-Experte Matthias Schmidt auf dem Podium der Quartavista-Abschlusspräsenta- tion. Auf seinem langen Weg ist Hiß vielen einfluss- reichen Menschen begegnet, etwa dem Gründer des Davoser Wirtschaftsforums Klaus Schwab und sogar Kanzlerin Angela Merkel. Er hat immer wieder Preise gewonnen, 2010 beispielsweise den Deutschen Nach- haltigkeitspreis oder 2020 den Preis für Nachhaltigkeit von „Zeit Wissen“. Und es sind andauernde Beziehun- gen entstanden wie zu dem Umweltwissenschaftler Ernst-Ulrich von Weizsäcker, der die Schlussworte bei der Quartavista-Präsentation sprach. Der Kontakt zu SAP kam über eine Doktorandin zustande, die innerhalb eines Mentoringprogramms der Uni Heidelberg, an dem Hiß beteiligt war, über die Regionalwert AG promovier- te, anschließend RW-Aktionärin wurde und bei SAP arbeitete. Sie stellte 2017 den Kontakt zu ihrem Chef her, in der Folge fuhr Christian Hiß nach Walldorf. Es gab Vorgespräche, man arbeitete zusammen das Pilotpro- jekt aus, akquirierte Fördermittel vom Bundesarbeits- ministerium, suchte und fand weitere Projektpartner. Wie geht es mit Quartavista jetzt weiter? Hiß macht das, was er seit 15 Jahren tut. Er knüpft weiter Kon- takte, etwa zu Banken, Berufsgenossenschaften, zum Bundesjustizministerium und auch zur IHK. E rste Gespräche mit Hauptgeschäftsführung und den Umweltexperten gab es bereits, und die IHK Südlicher Oberrhein hat Unterstützung für Quartavista signalisiert. Denn sie beobachtet bei den Unternehmen Unsicherheit, wie sie sich in Sachen Nachhaltigkeit aufstellen sollen. Der richtige Rahmen fehlt ja noch. „Viele wissen nicht so richtig, wo sie an- fangen sollen“, sagt Jil Munga , Referentin für Klima und Ressourceneffizienz der IHK Südlicher Oberrhein. Die Firmen müssten ja erstmal in Vorleistung gehen, wenn sie bislang externe Kosten internalisieren. Ge- setzliche Vorgaben könnten das ändern. „Aber es wird kein Unternehmen daran gehindert, jetzt schon aktiv zu werden“, betont Munga. Beispielsweise beim Aus- »Wir hoffen auf den Beginn einer neuen Zeitrechnung« Christian Hiß Regionalwert AG Eichstetten »Es wird kein Unternehmen gehindert, jetzt schon aktiv zu werden« Jil Munga Referentin für Klima und Ressourceneffizienz IHK Südlicher Oberrhein

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