Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe April'21 -Schwarzwald-Baar-Heuberg

7 heute), eine soziale eindeutigkeit (jede Person ist fest verortet, die Zuständigkeiten sind eindeutig) und eine sachliche einordnung nach themen. Die hierarchischen Strukturen zu akzeptieren, ist laut Kühl Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Organisation. Sie hat ja auch Vorteile: es müssen nicht immer alle alles gut fin- den, deshalb können auch unpopuläre entscheidungen getroffen werden. „in Krisensituationen, in denen die Organisation sehr schnell entscheiden und Ressourcen mobilisieren muss, sind hierarchische Organisationen im Vorteil“, sagt Kühl. Umgekehrt könnten aber, wenn es eher um dezentrale Reaktionen auf eine Krise geht, Organisationen mit abgeschwächten Hierarchien bes- ser reagieren. Aber bedeutet Hierarchie überhaupt Macht? „Nicht au- tomatisch“, sagt Kühl. Zwar speise die Hierarchie ihre Macht aus der Möglichkeit, leute entlassen, die Kar- rieren von Mitarbeitern beeinflussen und Ressourcen verteilen zu können. Doch oft seien Menschen unten mächtiger. Sachverstand, Kompetenz, Wissen oder wich- tige Kundenkontakte zählt Kühl als typische Machtquel- len ohne Hierarchie auf. Oder die Kontrolle informaler Kommunikationswege, die viele Assistent(inn)en perfekt beherrschen. laut Kühl gibt es nicht nur die klassische Führung von oben nach unten, sondern auch Führung zur Seite – also zu Kollegen aus anderen Abteilungen – und von unten nach oben. Die „Unterwachung der Vor- gesetzten“ nennt der Soziologe es, wenn Untergebene ihre Chefs dazu bringen, etwas zu tun. Solche Prozesse finden die ganze Zeit statt. Wenn Organisationen bewusst auf hierarchische Strukturen verzichten, erreichen sie damit laut Kühl dreierlei: Zum einen sucht sich, wenn die Organisation die Rolle niemandem zuweist, das Umfeld einen Spre- cher oder Repräsentanten. typisches Beispiel dafür: der Grünen-Politiker Joschka Fischer, der nie Vorsitzender, aber prominentester Repräsentant seiner Partei war. Zum anderen werden oft entscheidun- gen zentralisiert. Wenn man eine Führungsebene herausnimmt, ver- größert sich der einzugsbereich von Führung mit dem effekt, dass Mitarbeiter sich be- schweren, nicht gesehen zu werden und dass Ver- antwortlichkeit schwerer zu benennen ist. Schließ- »Wenn die Mit- arbeiter nicht mehr um einen Tisch passen, bilden sich Hierarchien« Stefan Kühl Professor für Organisationssoziologie, Universität Bielefeld lich befeuern flache Hierarchien Machtkämpfe, häufig auf der Hinterbühne. „Organisationen funktionieren viel komplexer als ein Gut oder Schlecht von Hierarchien suggeriert“, sagt Kühl. eine Hierarchie sei immer vorhanden, auch wenn es keinen Namen dafür gibt. „Faktisch haben alle Orga- nisationen eine Hierarchie – auch diejenigen, die sich als agil präsentieren“, betont Kühl. er habe noch keine Organisation mit mehr als 50 Mitarbeitern gesehen, die ohne Hierarchie auskommt. Sie ist notwendig, wenn Arbeitsteilung entsteht und für Kontakte nach außen. Sobald die Mitarbeiter nicht mehr um einen esstisch passen, die Face-to-Face-Kommunikation nicht mehr funktioniert, beginnen sich Hierarchien auszubilden. „Das ist gerade für Start-ups oft ein schmerzhafter trennungsprozess“, beobachtet Kühl. Selbstorganisa- tion klinge als Wort zwar toll, funktioniere klassischer- weise aber nur in temporären teams. Allerdings ließen sich die Formen kombinieren, sie müssten sich nicht ausschließen. Eine Frage der Kommunikation laut Peter Modler hängt das Verhältnis von Führung und Hierarchie davon ab, aus welchem Kommunikati- onssystem die teilnehmenden Personen kommen. Der Freiburger Unternehmensberater, Coach und Buchautor definiert – basierend auf Studienergebnissen der So- ziolinguistik – zwei „völlig unterschiedliche Systeme“. im sogenannten vertikalen System ist Hierarchie wie die luft zum Atmen. Die teilnehmer dieses Systems, das sind eher Männer als Frauen, können erst dann arbeiten, wenn die Rangordnung geklärt ist. Und zwar unabhängig davon, an welcher Stelle sie dann stehen. im horizontalen System dagegen, dem Modler mehr Frauen zurechnet, gibt es eine fast egalitäre Kommu- nikation. Der informationsaustausch fungiert hier als wichtiges Zeichen der Zugehörigkeit, und Hierarchie spielt überhaupt keine Rolle. Wenn Vertreter beider Systeme aufeinandertreffen und keine Übersetzung kennen oder sich der Unterschie- de nicht einmal bewusst sind, gibt es Probleme, so Modler: „Nur die Horizontalen sind sofort im inhalts- modus, die Vertikalen erst mal nicht.“ Das lasse sich gleichermaßen in präsenten wie virtuellen Arbeitssitua- tionen beobachten. Beispiel Videokonferenz: Während horizontale Menschen denken, dass es dabei nur um inhalte geht, blicken vertikale Menschen ganz anders

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