Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Januar '20 - Hochrhein-Bodensee

49 1 | 2020 IHK Zeitschrift Wirtschaft im Südwesten THEMEN & TRENDS Herr Kühl, was genau ist Agilität? Es heißt immer: Wir leben in einer Vuca-Welt, alles wird volatiler, unsicherer, komplexer, ambiguer, also widersprüchlicher, und das er- fordert neue Formen von agiler Organisation. Also: Umweltveränderung führt dazu, dass wir schneller, besser und effizienter werden sol- len. Diese Definitionen sind aber unbrauchbar, das sind eigentlich Selbstverständlichkeiten, die in immer neuen Versionen geprägt werden, um eine Dramatisierung aufzubauen. Was ge- nau sich hinter den Veränderungen und den notwendigen neuen Organisationsformen ver- birgt, bleibt dabei häufig unbestimmt. Wie setzen Unternehmen Agilität dann um? Es gibt drei Elemente, die meist unter Agilität propagiert werden: der Abbau von Hierar- chien oder Hierarchiestufen, wobei sich die wenigsten Organisationen trauen, komplett auf Hierarchie zu verzichten. Das zweite ist die Auflösung von Silos in Organisationen, also dass Abteilungsgrenzen durchlässiger werden sollen. Und drittens wird eine Zurück- nahme von Regeln gefordert, so etwas wie eine Entbürokratisierung. Der Idealtyp einer agilen Organisation sind eigentlich Parteien: Sie haben extrem flache Hierarchien, hoch- identifizierte Mitglieder, eine vergleichsweise geringe Abteilungsstrukturierung und wählen ihre Vorgesetzten selbst. Können Unternehmen das kopieren? Organisationen, die komplett auf Hierarchien verzichten, sind größenbeschränkt. Es gibt - auch im politischen Raum - keine Organisa- tion mit mehr als 100 Mitgliedern, die kom- plett auf Hierarchien verzichtet. Die kriegen ihre Komplexität gar nicht gewährleistet. Bei Kleinstorganisationen mag das funktionieren, bei größeren nicht. Stattdessen wird versucht, Hierarchiestufen zu reduzieren und umzube- nennen. Die Abteilungen heißen dann Tribes oder Teams. Aber dadurch ändert sich nichts. Wo sehen Sie die Probleme von Agilität? Zum einen bei der Führung: Wenn man Hie- rarchien aufweicht, nehmen Machtkämpfe zu – das lässt sich bei Parteien sehr genau beobachten. Dann auch bei der Abschaffung von Abteilungen. Organisationen funktionieren nur, weil sie auf Arbeitsteilung setzten. Bei Agi- litätsdiskursen löst man Silos auf und bemerkt gar nicht, dass wieder neue gebildet werden, die bloß anders heißen. In Organisationen, die sich agil nennen, haben wir die gleichen Effek- te der Arbeitsteilung und der Abteilung von Organisationen. Es löst sich nicht auf. Geht es anders? Die Frage ist, wie man ab- beziehungswei- se unterteilt, nach Funktion oder interdis- ziplinär? Wenn man beides will, entstehen komplizierte Matrixstrukturen mit mehreren Chefs. Es wird immer an den Teams gezogen, und man weiß nicht, wer das Sagen hat. Die- se Probleme der Matrixstruktur, die in agilen Organisationen wieder entstehen, kennen wir seit 40, 50 Jahren. Finden Sie auch etwas Gutes an Agilität? Ja, die Wiederentdeckung des Inkrementa- lismus, der schrittweisen, ausprobierenden Vorgehensweise. Dass man nicht mehr mit längerfristigen Masterplänen arbeitet, son- dern eher versucht, kurzzyklische Abstim- mungen einzubauen. Das ist eine überzeu- gende Konzeption, weil man sich in kleinen Schritten dem annähert, was rauskommen soll. Bei Veränderungsprozessen zum Bei- spiel ist meine Empfehlung an Organisation: Vergebt nicht so große Volumina, arbeitet Euch lieber inkremental an kleinen Sachen ab und versucht darüber den Prozess eher flexibel agil zu steuern. Interview: kat ZUR PERSON Der promovierte und habilitierte So- ziologe Stefan Kühl (53) hat an der Universität Bielefeld einen Lehrstuhl für Organisationssoziologie inne und ist als Experte für Metaplan Consulting tätig. Er berät Unternehmen, Verwaltun- gen und Ministerien zu deren Strategie- und Organisationsentwicklung. Kühl hat mehrere Bücher zum Thema veröffent- licht, unter anderem „Wenn die Affen den Zoo regieren: Die Tücken der flachen Hierarchien“ und „Sisyphos im Manage- ment: Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur“. Interview zu agiler Führung » Man weiß nicht, wer das Sagen hat « Hierarchien flacher zu gestal- ten oder gar abzuschaffen liegt im Trend – Stichwort „agile Führung“. Aber funktioniert das überhaupt? Das fragen wir den Bielefelder Organisations- soziologen Stefan Kühl, der sich seit drei Jahrzehnten mit wechselnden Management- methoden beschäftigt. „Vom Aussterben bedroht: Ist die hier- achische Führung am Ende?“ lautet der Titel des Freiburger Kongresses Personalführung, der dieses Jahr zum sechsten Mal stattfindet, organisiert unter anderen von der Erz- diözese Freiburg und der IHK Südlicher Oberrhein. Als Experte ist Stefan Kühl eingeladen. 12. März, 10 bis 16.30 Uhr, Collegium Borromaeum Kosten: 175 Euro Anmeldung bis 21. Februar www.freiburger- personalkongress.de

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