Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Mai'19 - Schwarzwald-Baar-Heuberg

Wirtschaft im Südwesten 5 | 2019 44 Themen & Trends E uropa und die Europäische Union befinden sich im Umbruch. Wirtschafts- und finanzpolitische Krisen haben unseren Kon- tinent erschüttert. Fragen von Migration und Zuwanderung haben heftige Debatten ausgelöst. Und unser einmaliges europäi- sches Modell von Frieden, Freiheit und Wohlstand sieht sich Heraus- forderungen aus aller Welt gegenüber. Herausforderungen, die unsere Art zu leben in politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht infrage stellen. Europa braucht deshalb heute nichts drin- gender als überzeugte Europäerinnen und Europäer. Das gilt auch für die baden-würt- tembergische Wirtschaft. Europa braucht den Einsatz der Unternehmerinnen und Un- ternehmer aus dem Land. Vermeintlich vor- nehme Zurückhaltung können wir uns nicht mehr leisten. Ökonomisch die bessere Wahl Was geschieht, wenn Europa keine Für- sprecher mehr hat, erleben wir in Großbri- tannien. Für eine Mehrheit der Briten ver- körperte der Brexit das Versprechen einer glänzenden Zukunft. Die Realität zwei Jahre später sieht anders aus. Das Pfund und mit ihm die Kaufkraft der Briten ist gesunken, die Investitionen in den Wirtschaftsstandort UK gingen zurück und liegen weit hinter dem OECD-Durchschnitt. Nur ein halbes Dutzend Staaten waren zudem bislang bereit, mit Großbritannien Handelsabkommen zu schlie- ßen. Statt den Freihandel mit den Großen der Welt neu zu organisieren, wurde London lediglich mit Staaten wie Liechtenstein und den Färöer-Inseln handelseinig. Die Europä- ische Union hat demgegenüber gerade erst ein umfassendes Freihandelsabkommen mit Japan zustande gebracht und kann auf eine Liste von mehreren Dutzend Nationen blicken, die mit dem europä- ischen Binnenmarkt frei Handel treiben wollen. Die ökonomische Zwischenbilanz ist also eindeutig: Der Abschied aus der EU kennt nur Verlierer – vor allem in Großbritannien selbst. Europa ist zusammengerückt Die einmalige Situation eines EU-Austritts hat uns deutlich vor Augen geführt, was wir an Europa haben. 81 Prozent der Deutschen und europaweit 62 Prozent der Befragten sehen in der EU-Mitgliedschaft ihres Staates laut dem Eurobarometer inzwischen eine gute Sache. Die Europäische Union kann natürlich noch besser werden. Kritik ist erlaubt und notwendig, beispielsweise angesichts der Brüsseler Leidenschaft für bürokratische Überreglementierungen. Aber insge- samt ist die EU nicht nur ein funktionierender Wirtschaftsraum, son- dern darüber hinaus eine stabile Werte- und Rechtsgemeinschaft. Wir wollen nicht nur Handel treiben, sondern auch unsere Interessen verteidigen. Das gilt hinsichtlich technologischer Standards ebenso wie in sozialer und ökologischer Hinsicht. Das gilt vor allem aber für unser freiheitliches Gesellschaftsmodell. Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind keine Nebeneffekte des Binnenmarktes, sondern Kernelement der europäischen Einigung. Europa muss Mehrwert bieten Wer Europa als politisches Projekt sieht, der muss auf die Frage nach der Zukunft der Eu- ropäischen Union andere Antworten finden, als derjenige, der sich nur eine gut ausgebaute Freihandelszone wünscht. Ein Unterschied, der manch divergierende Sichtweise zwischen Lon- don auf der einen und Berlin, Paris oder Rom auf der anderen Seite erklärt. Der Mehrwert der EU definiert sich für mich deswegen nicht allein über die riesige Bedeutung für unsere Exportwirtschaft. Der Mehrwert Europas wird sich künftig mindestens ebenso in anderen Bereichen erweisen: Europa muss Sicherheit nach innen wie außen garantieren, muss für Grenzschutz und Cybersicherheit sorgen und seine Verteidigung gemeinsam organisieren. Denn erst ein sicheres und global handlungs- fähiges Europa wird langfristig auch ein pros- perierendes Europa sein können. Gemeinsame Investitionen in Digitalisierung und künstliche Intelligenz, in die Vollendung des Binnenmark- tes oder grenzüberschreitende Infrastruktur- projekte werden den europäischen Mehrwert noch spürbarer werden lassen. Am Ende könnte eine Europäische Union, die sich auf die großen Fragen konzentriert und gleichzeitig Spielräume für Entscheidungen in den Kommunen, Regi- onen und Ländern lässt, aus den Krisen der Vergangenheit gestärkt hervorgehen. Die Wei- chen dafür werden in den kommenden Monaten, unter anderem durch die Entscheidung über den mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre nach 2021, gestellt. Europa braucht unser Engagement Wer das Gelingen des europäischen Projekts will, der muss deswegen jetzt handeln, muss seine Vorstellungen formulieren und seine Stim- me erheben. Die Landesregierung hat dies mit ihrem von Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verbänden erarbeiteten Europaleitbild getan. Baden-Württembergs Wirtschaft ist allerdings genauso gefordert. Lassen Sie uns trotz aller Herausforderungen gut über Europa reden. Lassen Sie uns Risiken aufzeigen und Chancen be- tonen, damit am 26. Mai möglichst viele Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger wählen gehen. Europa braucht ein klares Votum, und Europa braucht unsere Unterstützung. Guido Wolf »Zurückhaltung können wir uns nicht mehr leisten« Gastbeitrag von Europaminister Guido Wolf zur Europawahl am 26. Mai Europa braucht überzeugte Europäer

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