Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Juli/August'24 - Hochrhein-Bodensee
15 7+8 | 2024 IHK-Zeitschrift Wirtschaft im Südwesten Herr Bölting, beim Thema Wohnen ließe sich auch darüber diskutieren, Wohn- raum in ehemaligen Geschäftslagen zu schaffen. Bölting: Das kann man. Wenn man den ent- sprechend langen Atem hat und viel Geld in die Hand nimmt. In einer Stadt wie Freiburg wird das funktionieren. Aber selbst dann sind die Erdgeschosslagen dafür oft nicht geeig- net und bleiben leer. Das ist problematisch, denn die Nutzung soll ja auch Erlöse und eine Rendite erzielen. Wenn diese wegfällt, werden auch Investitionen schwer. Es ist ein Teufelskreis für die Eigentümer. Im Fokus: Erreichbarkeit und Austausch Was kann man dann tun, um diesen Teu- felskreis zu durchbrechen? Bölting: Das ist eine Riesenaufgabe für die Betroffenen und die Wirtschaftsförderung vor Ort. Wohnen ist die eine Lösung. Was es noch geben kann, sind hybride Konzepte und Dienstleistungen wie Pop-up-Stores, die dort zeitversetzt ankommen. Und eine Grundversorgung in Kleinstädten durch Discounter zum Beispiel. Dazu kommen erprobte Konzepte der Eventisierung des stationären Handels. Das geht aber nur ge- meinsam, wenn Kommunen, alle Händler und die Bürgerschaft mitmachen. Frau Horx-Strathern, Sie sprachen ein- gangs das Thema Erreichbarkeit an. In einer Kleinstadt ist es sicher leichter, zu Fuß überall hinzukommen, was können Großstädte hier anders machen? Horx-Strathern: Wir sprechen hier von der Polyzentrizität der Städte: Dinge sollten im nahen Umfeld erreichbar sein. Das Stich- wort sind die „15 Minute Cities“, die auch ein Gegenmodell für die zunehmende Verein- samung in unserer individualisierten Gesell- schaft bilden können. Und es ist erwiesen, dass fußläufige Erreichbarkeit zum Beispiel für den Handel und Dienstleister ein bedeu- tender Motor sein kann. Auf dem Land ist diese Erreichbarkeit oder „Walkability“ in der Regel gegeben. Trotzdem sterben kleinere Kommunen aus. Horx-Strathern: Mobilität ist oft ein Kernpro- blem. Hier in Österreich gibt es eine Klein- stadt, die hat eine E-Auto-Flotte angeschafft, die man für wenig Geld nutzen kann, um sich von A nach B bringen zu lassen. Die Fahrer sind Ehrenamtliche, sogar der Bürgermeister macht mit. Und das ist auch ein sozialer As- pekt und ein Ort der Kommunikation. Kom- munikation ist wichtig. Wir Menschen wollen nicht durch und durch digitalisiert werden. Oder kennen Sie jemanden, der in einem „Smart Home“ wohnt? Vor zehn Jahren galt das als großer Trend, aber es hat sich nicht wirklich durchgesetzt. Wir wollen auch nicht immer nur in einem anonymen Shopping- Center am Stadtrand einkaufen gehen und an einer Computer-Kasse bezahlen, es gibt da einen gewissen Gegentrend. In London werden die Computer-Kassen schon wieder abgebaut. Das geht bis hin zu ausgewiesenen Kassen, an denen man auch ein Schwätz- chen halten kann, in Holland etwa. Herr Klus, welche Schwerpunkte Ihres Fachgebiets Soziale Stadtentwicklung sind bzw. werden künftig besonders rele- vant werden? Klus: Ganz klar ist, dass die soziale Ent- wicklung immer enger verknüpft ist mit der ökologischen Entwicklung einer Kommune. Da gibt es Zielkonflikte: Ökologisches Bau- en macht beispielsweise Mieten tendenziell teurer. Kann und muss man als Staat da sub- ventionierend einschreiten, oder kann man es sich leisten, hier zu sparen? Das ist eine große Herausforderung. Herr Bolting, was konkret könnte aus stadtplanerischer Sicht erfolgreiche Transformationen in Städten und Kommunen anstoßen? Bölting: Das können Erfolgsgeschichten um den Tourismus herum sein. Auch das Landle- ben, kulturelle Anziehungspunkte oder wie- derkehrende Veranstaltungen. Besonderes Augenmerk richten wir zurzeit auf hybride Konzepte, die zum Beispiel Nutzungen aus dem Gesundheitswesen mit bürgerschaftli- chem Engagement und Handel verbinden. Vielversprechende Erfahrungen gibt es zum Beispiel mit den „MarktTreffs“ in Nord- deutschland oder auch verschiedenen Kon- zepten lokaler oder regionaler, medizinischer Versorgungszentren, etwa in Niedersachsen. Und da ist dann der Händler gefragt mit sei- ner Kreativität und der Lücke, die er für sich und sein Geschäft in diesem Gesamtkonzept finden kann. Der Weg ist steinig, denn solche neuen „Stories“ zu entwickeln ist anstrengend und ohne Erfolgsgarantie. Ralf Deckert Torsten Bölting Oona Horx-Strathern Unsere Experten: Prof. Dr. Torsten Bölting , Ingenieur, Stadt- und Raumplaner, Geschäftsführer des InWIS Instituts fürWohnungswesen, Immobilienwirt- schaft, Stadt- und Regionalentwicklung GmbH in Bochum. Erstellt unter anderem Markt-, Standort- und Sozialraumanalysen für Kom- munen und die Wohnungswirtschaft. Oona Horx Strathern , Trend- und Zukunfts- forscherin, Coach, Rednerin, Journalistin und Autorin („Kindness Economy – Das neueWirt- schaftswunder“, Gabal Verlag), CEO der Horx Future GmbH in Wien. Berät große Unterneh- men und Institutionen als „Trend-Consultant“ in Zukunftsfragen. Prof. Dr. Sebastian Klus , Studiendekan für SozialeArbeit an der Katholischen Hochschule Freiburg. Ist für die Hans-Böckler-Stiftung als Vertrauensdozent beratend tätig, forscht unter anderem zu Fragen der Sozialen Stadtentwick- lung und der Sozialarbeitspolitik.
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