Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe November'23 - Hochrhein-Bodensee

12 IHK-Zeitschrift Wirtschaft im Südwesten 11 | 2023 LEUTE KOPF DES MONATS Umgesattelt Joachim Schreijäg | Rosszeit DEILINGEN. Zu seinem 50. Geburtstag vor einigen Jahren hat sich Joachim Schreijäg aus Deilingen im Landkreis Tuttlingen einen besonderen Wunsch erfüllt: eine Teilzeitstelle – um sein Unternehmen „rosszeit“ weiterzuentwickeln. Dass der CAD/CAM-Program- mierer, der im Maschinen- und Spritzgussformenbau und in der Medizintechnik gearbeitet hat, seine gut bezahlte Stelle schließlich 2021 – mitten in der Co- ronapandemie – ganz gegen Kutschbock und Selbst- ständigkeit eintauschte, habe in seinem Umfeld für viel Unverständnis gesorgt, erinnert er sich. „Aber ich bin ein sturer Überzeugungstäter.“ Heute bietet der Mittfünfziger Kommunen und privaten Waldbesitzern ganzjährig Holzrückarbeiten mit Pfer- den an. Dabei arbeitet er nach traditioneller Arbeits- technik und dem sogenannten Kölner Verfahren: Statt mit dem Traktor holt Joachim Schreijäg die Baumstäm- me mit seinen beiden Noriker-Kaltblütern – Zeus und Whoke – aus dem Wald und vermeidet so die tiefen Fahrspuren zwischen den Bäumen. Leichtere Arbeiten übernimmt auch schon mal das Shetlandpony. Zeus und Whoke ziehen rund ums Jahr auch die Kutsche und im Winter den Pferdeschlitten. Gemeinsam mit Touristen und mit Gästen von Geburtstags- und Hochzeitsfeiern oder Junggesellenabschieden geht es dann durch die Wälder und über die Felder rund um den Großen Heuberg, in der „Region der zehn Tausender“ auf der Schwäbischen Alb. „Einspannen und dabei ausspannen“ lau- tet die Devise seines Angebots ( www. rosszeit.de ). Damit das gelingt, bietet Jo- achim Schreijäg Themenfahrten an und arbeitet mit Fremdenführern und Cate- rern aus der Region, die für das leibliche Wohl der Teilnehmer sorgen. Bevor es so weit war, hat sich der Un- ternehmer vieles selbst beigebracht. Zum Beispiel, wie der Wald achtsam mit Pferden gepflegt werden kann und was beim Einsatz von Pferdezugtechnik zu beachten ist. Schreijäg machte sich mit YouTube-Videos schlau, sprach mit Gleichgesinnten, besuchte Fuhrmannsmuseen und andere Fuhrhalterei- en. Wie die Theorie in der Praxis funktioniert, testete er im rund ein Hektar großen familieneigenen Wald. Nach den ersten Selbstversuchen mit Kutsche wurde ihm allerdings klar: Ich brauche professionelle Nachhilfe. Ein paar Lehrgänge für Fuhrleute später, lief alles gleich schon viel besser. Einblicke in seinen Arbeitsalltag teilt der Pferdelieb- haber via Facebook. Mit Erfolg: Seine Socialmedia- Aktivitäten haben nicht nur Kunden, sondern auch den Südwestrundfunk aufmerksam gemacht. Der Sender produzierte erst einen kurzen TV-Beitrag für die Lan- desschau und entschied dann, Schreijäg ein Jahr lang zu begleiten. Herausgekommen ist die Reportage „Joachims Experiment – Landwirtschaft wie vor 100 Jahren“, die es auch in der ARD-Mediathek zu sehen gibt. Die Ausstrahlung 2022 füllte das Auftragsbuch für Kutsch- und Schlittenfahrten, sodass Schreijäg erst- mals profitabel wirtschaftete und nicht auf Rücklagen zurückgreifen musste. Dass sich sein Geschäftsmodell trägt, liegt auch am Lebensstil des „Minimalisten aus Leidenschaft“, wie sich der Deilinger selbst nennt. Sein Auto hat er ver- kauft, in Urlaub fährt er mit Rad oder Bahn und einen Großteil der benötigten Lebensmittel baut er selbst an. Insgesamt bewirtschaftet er rund vier Hektar Acker und Grünland. Hinzu kommt ein hoher Grad an Eigenleistung. „Arbeitsgeräte baue ich soweit möglich selbst, Beschädigtes versuche ich zu reparieren. Die- sen Sommer habe ich erstmals mit den Pferden Heu gemacht“, sagt Schreijäg, den regelmäßig „WWOOfer“ unterstützen. Das sind freiwillige Helfer, die gegen Kost, Logis und Wissenstransfer auf ökologischen Höfen mithelfen. So romantisch das Leben als selbstständiger Selbst- versorger klingt, so herausfordernd ist es. Das Leis- tungsvermögen der Pferde ist – gerade auch in der Sommerhitze – begrenzt, die Witterungsverhältnisse sind schwer planbar. Bei Anfragen außerhalb der Re- gion kämen, so Schreijäg, noch Reiseplanung und Lo- gistik als limitierende Faktoren hinzu: Welche Strecke schaffen die Tiere pro Tag? Gibt es einen passenden Unterstand für alle? Stehen Einnahmen und Aufwand in einem vertretbaren Verhältnis? Daher plant Joachim Schreijäg, sein Portfolio im nächsten Jahr zu erweitern. Interessierte sollen ihn dann in den Wald begleiten können, um mehr über das Handwerk des Holzrückens zu erfahren. Zudem möchte er Gästezimmer im Haus einrichten und Über- nachtungen im Planwagen anbieten. Neben dem Pfer- destall soll ein Stellplatz für Wohnwagen entstehen. Abgesteckt ist er schon. Kristin Schwarz »In Sachen Pferd bin ich ein Spätberufener« KOPF des Monats Mit Zeus und Whoke ist Joachim Schreijäg rund ums Jahr für seine Gäste im Einsatz.

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