Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Oktober'23 -Schwarzwald-Baar-Heuberg
7 10 | 2023 IHK-Zeitschrift Wirtschaft im Südwesten TITEL I ch glaube, die Erkenntnis, dass wir inzwi- schen einen Bewerbermarkt haben und dass man sich als Arbeitgeber mehr als frü- her zur Decke strecken muss, um Mitarbeiter zu gewinnen und zu binden, ist bei den Unterneh- men angekommen“, sagt Alexander Graf, Leiter des Geschäftsbereichs Standortpolitik bei der IHK Hochrhein-Bodensee. „Nur vielleicht noch nicht in letzter Konsequenz.“ Tatsächlich lassen die Prognosen des Fach- kräftemonitors BW für den Südwesten ein im- mer härteres Recruiting erwarten: Wird für das kommende Jahr „erst“ eine Fachkräftelücke von rund 15.000 Mitarbeitern in den drei hie- sigen IHK-Bezirken erwartet, so sind für 2026 schon 35.000 hochgerechnet – und das über alle Qualifikationen. In vielen relevanten Bran- chen und Berufen fällt der Mangel deutlich stärker aus. Und Tendenz natürlich steigend. Tue Gutes und sprich vor allem darüber Was also tun? Alexander Graf beobachtet be- reits jetzt am Markt ungewöhnliche Aktionen, „die es früher so nicht gab“, und führt den Bewerbertag bei Osypka in Herten als Beispiel an. Mitorganisiert vom Arbeitgeberservice der Arbeitsagentur in Lörrach präsentierte sich der Medizintechnikhersteller Anfang Septem- ber 90 jobinteressierten Besuchern quer durch alle Altersgruppen und Qualifikationen. Ein Arbeitgeber-Casting gewissermaßen. Medial stärker nach draußen zu gehen und über die Benefits des eigenen Unternehmens zu sprechen – an denen zu feilen sich im Sinne der Bewerber und der aktuellen Belegschaft auch sehr lohnt –, ist eine Option im Ringen um mehr Fachkräfte. Eine weitere: Neue Per- sonengruppen erschließen. In Zeiten, in denen die Bewerbungsmappen- stapel noch hoch waren, haben viele Betriebe verständlicherweise eher den unkomplizierten Freiburger Verkehrs AG, Freiburg Wachsen mit Quereinsteigern Immer mehr Busse und Bahnen im Einsatz, steigender Trubel in der Innenstadt und die absehbare Pensionierung vieler Kollegen – für die Freiburger Verkehrs AG war im vergangenen Jahr klar, „wir brauchen mehr Fahrpersonal“, berichtet Helmut Wilsch , Unternehmensbereichsleiter Fahrbetrieb bei der Freiburger Verkehrs AG. Vor allem auch, um die Mitarbeiterzufriedenheit im Fahrdienst insgesamt zu sichern. Etwa 80 neue Kolleginnen und Kollegen werde man jedes Jahr brauchen, so die Berechnung. Die Frage nur, wo bekommt man so viele her? „In einem ersten Schritt haben wir die Einstiegshürde gesenkt“, erklärt Wilsch. Statt eines Bus- oder Lkw- Führerscheins benötigen Kandidaten zum Start jetzt nur noch einen Pkw-Führerschein. Und die Konditionen für den Erwerb des Busführerscheins, der natürlich trotzdem noch nötig ist, wurden für alle Anwärter verbessert. „Zudem haben wir überlegt, was braucht gerade ein Quereinsteiger – der ja noch nie mit so großen Fahrzeugen zu tun hatte –, um sich gut einzufinden und sich nicht alleingelassen zu fühlen an seinem neuen Arbeitsplatz?“ Das Ergebnis ist ein intensiveres Onboarding, mit viel Betreuung während der ersten sechs Monate durch die Teamleiter. Der Erfolg des Programms gibt dem neuen Konzept recht: „Wir werden die angepeilten 80 neuen Fahrdienstmitarbeiter in diesem Jahr voraussichtlich schaffen“, ist Helmut Wilsch stolz. Ohne die Quereinsteiger hätte man nicht einmal die Hälfte einstellen können. uh Katja v. Glinowiecki, Partnerin parents@work, Rielasingen Frauen als Chance sehen Wenn es um Chancengleichheit im Beruf und Vereinbarkeit geht, kann sich Katja von Glinowiecki schon mal in Rage reden. „Wir verlieren die Frauen und ihr Potenzial nicht erst, wenn sie die Kinder bekommen, sondern schon vorher, in den ersten Berufsjahren“, so ihre Erfahrung. „Allein durch die immer noch herrschenden Vorurteile, sie könnten ja Kinder bekommen. Und damit hört man auf, sich für bessere Bedingungen einzusetzen.“ Von Glinowiecki berät Unternehmen vor allem auf ihrem Weg zu familienfreundlichen Arbeitgebern. Sie wünscht sich einen grundlegenden Perspektivenwechsel: „Betriebe denken problemorientiert – Wer macht mir jetzt das Projekt fertig? Wie bekomme ich bloß die Elternzeit überbrückt? – statt lösungsorientiert: Was kann ich ak- tiv tun, damit diese gut eingearbeitete Kraft nach der Fa- milienzeit zurückkehrt?“ Was sind schon drei Jahre Elternzeit gemessen an einem ganzen Berufsleben. Allzu oft, so ihre Erfahrung aus Coachings mit ratlosen Unternehmern, verpasse man schlicht die Chance zum Gespräch: „Fragen Sie Ihre Mitarbeiterinnen – und auch die Mitar- beiter – doch einfach mal, was ihnen weiterhelfen würde für eine bessere Vereinbarkeit und welche Ideen sie haben.“ Dann könne man gemeinsam zu guten und wertschätzenden Lösungen kommen. Hinderlich sei, so sagt Katja von Glinowiecki, die immer noch gängige Annahme, Teilzeit sei nicht effektiv und Mitarbeiter müssten stets – und bis in den Abend – vor Ort sein, um etwas zu leisten. „Das ist längst widerlegt.“ uh 200 Tage braucht eine Spedition in Offenburg im Schnitt aktuell, um einen Berufskraftfahrer zu besetzen. Für einen Koch in Konstanz braucht man 163 Tage , für den Mechatroniker in Villingen- Schwenningen 154 Tage . Quelle: Bundesagentur für Arbeit „ Bild: VAG/Anja Thölking
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